Auf Fessis


Auszug aus dem vierten Kapitel
Auf Fessis
Sinsheimer hatte recht. Die Leiche Salzsteins wurde gut zweieinhalb Wochen nach seinem Verschwinden gefunden. Vom Bergbauern Silas Elmer, genannt Saul. Saul war ein knorziger Kerl, der das Kleintal nur ein- oder zweimal im Jahr verliess, einmal zur Landsgemeinde im Mai und einmal zum Viehmarkt im Herbst. Die Sommer verbrachte er mit seiner Frau Maria Magdalena auf der geliebten Alp Fessis, fernab jeglicher Stumpfsinnigkeit. Auf Alp Fessis war er sein eigener Herr und Meister, da sprach ihm niemand ins Gewissen, da hiess ihn niemand, dies und das zu tun. Das war nicht immer so. Der Letzte, der das getan hatte, war sein Vater Jeremias, und der war schon lange tot. Er stürzte zu Tode, als er bei schlechtem Wetter vom Melkstand auf Chrummböden herabsteigen wollte und ausrutschte. Er schlug dermassen hart auf einem Stein auf, dass es ihm den Schädel spaltete. Saul fand den Vater erst Stunden nach dem Unfall, als er auf Chrummböden hochsteigen wollte, um nach dem Rechten zu sehen. Damals war Saul schon sechsunddreissig Jahre alt und litt immer noch unter der Herrschsucht und Starrköpfigkeit seines Vaters. Unter der Knute von Jeremias zu stehen, war alles andere als ein Zuckerschlecken. Nicht nur der eigene Sohn und die Schwiegertochter litten darunter, auch Knechte, Mägde und andere Gehilfen fürchteten sich vor den Wutausbrüchen dieses verbitterten alten Mannes, der, nachdem er seine Frau in den Tod getrieben hatte, vollends zum unausstehlichen Zeitgenossen wurde, dem man nichts rechtmachen konnte. An allem und an allen hatte er etwas auszusetzen, verfluchte unablässig Gott und die Welt und betrank sich jeden Tag mit seinem Selbstgebrannten. Er trank zuweilen so viel, dass er mitunter über lange Zeit nicht mehr richtig nüchtern wurde. Dann mieden ihn nicht nur die Menschen, auch die Kühe im Melkstand wandten sich von ihm ab, weil er dermassen nach Schnaps roch und von einer unangenehmen Aura umhüllt war, einer Aura, die Gras und Blumen zum Welken und Tiere zum Verstummen brachte.
Saul war überzeugt davon, dass dem verbitterten Vater die ständige Sauferei zum Verhängnis wurde. Für ihn war absehbar, dass Jeremias früher oder später den Halt unter den Füssen verlieren und derart hinfallen würde, dass sein erbärmliches Leben ein solches Ende nehmen musste. Seine Trauer hielt sich dann auch in Grenzen, er konnte nicht angemessen wehklagen, so wie es sich für einen Sohn geziemt. Und er wollte auch nicht jammern, dafür hatte er keine Zeit, und keine Lust. Jeremias war weg. Und niemand vermisste ihn, weder die Tiere, noch die Menschen, und am wenigsten die Alp Fessis selbst.
Nachdem Saul Jeremias gefunden hatte, spuckte er ordentlich Gift und Galle, bevor er kurz darüber nachdachte, ob er sich über den plötzlichen Tod des Vaters freuen oder ob er bestürzt darüber sein sollte. Er war beides. Saul war ein kräftiger Kerl, gross wie ein Bär, breit wie ein Schrank. Fluchend hievte er sich den leblosen Körper über die Schulter und trug den Vater wie einen Sack Mehl hinunter zur Hütte, wo er die Last niederlegte, sich die Hände im Hellbach wusch und lautstark nach seiner Frau Maria Magdalena und dem Zusenn Melchior rief. Beide kamen herbeigelaufen, die eine aus der Alphütte, der andere aus dem Stall. Auch bei ihnen hielten sich Bestürzung und Erleichterung die Waage. Melchior bemerkte trocken, dass das früher oder später passieren musste. Maria Magdalena stellte sich zu ihrem Saul, nahm seine rechte Hand und drückte sie in einer Art und Weise, die unmissverständlich andeutete, dass sie insgeheim froh über das Ableben des Schwiegervaters war.
Jeremias war der erste Tote, den Saul gefunden hatte. Und das war vor gut zwanzig Jahren. Den zweiten Toten fand er an einem Dienstagmorgen Mitte September 1985, als er sich anschickte, mit dem Tagewerk zu beginnen. Es gab viel zu tun auf Alp Fessis. Aber das war dem Saul egal. Er liebte es, hart anzupacken. Er liebte die fünfzehn Kühe und den Stier Herkules, die fünfunddreissig Rinder und Kälber kannte er mit Namen, die vier Schweine wollte er auf keinen Fall missen, und die drei Ziegen erfreuten ihn täglich aufs Neue. Ein Leben ohne Tiere konnte sich der Saul nicht vorstellen. Er zog die Gesellschaft der Viecher jener von Menschen vor. Eigene Kinder hatten Saul und Maria Magdalena keine, die Natur war dagegen, aus welchen Gründen auch immer. Also schenkten sie ihre ganze Zuneigung den Tieren, vor allem dem Hund Brutus, welcher an diesem Morgen ungewöhnlich laut herumkläffte, dem Saul um die Beine wirbelte und hartnäckig an ihm hochsprang. Dass irgendetwas an diesem Morgen nicht stimmte, merkte Saul sofort. Er forderte Brutus wortreich auf, ihm zu zeigen, was ihn dermassen beunruhigte und in Rage brachte. Der Hund stob davon und rannte hinter den Stall, wo sich die Jauchegrube befand. Saul realisierte schon von Weitem, dass die Grube offen stand, was sehr ungewöhnlich war, und noch ungewöhnlicher waren die jammervollen Schreie, die aus der Grube herauf tönten.
«Himmelarsch!», schrie Saul aufgebracht, «welcher Idiot hat die Grube offen stehen lassen?! Verdammte Scheisse!»
Brutus hüpfte wie wild um das stinkende Loch und bellte das Rind, das in die Grube gefallen war, an, als wollte er es massregeln und zur Rechenschaft ziehen. Saul schrie nach Melchior und seiner Frau. Beide kamen herbeigerannt, trauten ihren Augen nicht, als sie das Rind in der Gülle stehen sahen und begannen sofort unter der Regie von Saul mit den Bergungsarbeiten. Es war beileibe nicht einfach, das Tier aus dem Loch zu hieven, aber es gelang. Der Gestank war fürchterlich, raubte einem beinahe den Atem, das gerettete Rind jammerte und stand benommen auf wackeligen Beinen, Brutus kläffte, dass die herbei gelaufenen Hühner heftig erschraken und flügelschlagend auseinander stoben.
«Da ist noch was drin», bemerkte Saul, als er das Loch schliessen wollte.
Er liess sich von Melchior die Stange mit dem Haken geben und stocherte in der Scheisse rum, bis er so was wie einen Rucksack zu fassen kriegte.
«Wie kommt ein Rucksack in unsere Jauchegrube?», wunderte sich Maria Magdalena.
Sie erhielt keine Antwort, denn der Saul stocherte schon wieder in der Gülle rum, bis er einen leblosen Körper am Haken hatte.
«Heilige Scheisse! Was ist das denn?!»
«Das ist die Person, die den Rucksack getragen hat», antwortete Melchior.
«Ach ja! Was du nicht sagst. Darauf wäre ich nie gekommen. Und jetzt halt die Klappe und hilf mir, den armen Kerl herauszuziehen.»
Maria Magdalena hielt sich die Hände vors Gesicht, Brutus kläffte, das gerettete Rind trottete davon.
«Heilige Scheisse!», fluchte Saul, «das hat uns gerade noch gefehlt.»
Er starrte auf den toten Körper, dem unmöglich anzusehen war, wie weit der Verwesungsprozess schon fortgeschritten war, weil er von einer dicken Schicht Scheisse umhüllt war.
«Melchior, wann hattest du zum letzten Mal hier hinten bei der Jauchegrube zu tun?», fragte Saul.
«Das war gestern. Ich habe hier hinten jeden Tag zu tun.»
«Und dir ist nichts aufgefallen? Stand die Grube offen? Hast du vergessen, den Deckel zu schliessen?»
«Schon möglich, dass ich sie gestern offen stehen liess. Ansonsten ist mir nichts aufgefallen. Die Grube war immer verschlossen.»
«Nun gut. Hättest du sie nicht offen gelassen, hätten wir diesen armen Kerl nie gefunden. – Geh und kümmere dich um das Rind. Spritz es ordentlich ab und bring es in den Stall. Dort soll es sich erholen.»
Inzwischen hatte sich Maria Magdalena am Rucksack zu schaffen gemacht. Möglicherweise waren die Papiere des Toten darin. Zu ihrem Erstaunen war der Rucksack voller kleiner und mittelgrosser Einmachgläser. Es war nicht zu erkennen, womit die Gläser gefüllt waren, alles war mit Gülle verdreckt. In einem Innenfach fand sie einen Ausweis, in Plastik eingeschweisst.
«Sieh mal, Saul. Der arme Kerl heisst Salzstein, Detlef Salzstein aus Leipzig.»
«Aus Leipzig! Was hat ein Tourist aus Leipzig in unserem Güllenloch verloren? Und wie ist er da überhaupt reingekommen? Man stürzt doch nicht einfach so in eine Jauchegrube!»
«Vielleicht hat ihn jemand hinabgestossen?», mutmasste Maria Magdalena.
«Wie dem auch ist. Ich geh jetzt und funk die Polizei an. Die sollen den Kerl so schnell wie möglich von hier wegschaffen. So was brauchen wir hier oben nicht. Je schneller die Leiche fortgeschafft wird, umso besser.»
Keine zwei Stunden später landete ein Helikopter der Rega auf Alp Fessis, was dem Saul gar nicht gefiel. Nachdem er dem Polizisten über Funk gesagte hatte, dass sie einen Deutschen namens Detlef Salzstein tot in der Jauchegrube gefunden hätten, herrschte auf dem Polizeistützpunkt grosse Aufregung. Natürlich wussten die Leute auf Fessis nicht, dass es sich bei der Leiche um den berühmten Leipziger Fäkalkünstler handelte. Woher denn auch? Zeitung hatten sie keine auf der Alp, und was sie sich im Radio anhörten, waren bestimmt nicht kulturelle Sendungen über zeitgenössische Kunst. Und sollten sie den Namen Salzstein zufällig mal aufgeschnappt haben, wenn sie sich Nachrichten anhörten, dann interessierte sie das nicht im Geringsten. Was sie interessierte, waren die Wetterprognosen für die kommenden Tage. Für Künstler hatte Saul nichts übrig. Für ihn gab es nur eine Künstlerin, und das war die Natur. Mit billigen Kopien ihrer vollendeten Werke konnte er nichts anfangen. Auch wenn manche behaupten, dass Kunst konzentrierte Natur sei. Und als er erfuhr, dass Salzstein mit Scheisse malte, schüttelte er verständnislos den Kopf und meinte salopp, dass es ihn nicht wundere, dass dieser Kerl den Tod in einer stinkenden Jauchegrube gefunden habe.
Der Kommissar, dem er dies erzählte, hiess Tasso Thalmann. Missmutig und von einem unangenehmen Schwindel ergriffen, war er aus dem Hubschrauber gestiegen und sah sich irgendwie angewidert um. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Gleichgewicht zu finden. Er hasste das Fliegen, vor allem jenes in Helikoptern. Er hatte Höhenangst. Und wer Höhenangst hat, vermeidet das Fliegen tunlichst und begibt sich nicht auf höhere Lagen wie diese Alp oder auf Berge allgemein. Thalmann hatte nichts gegen Berge, solange er sie von unten anschauen konnte. Dass er nun an diesem verfluchten Dienstagmorgen auf mehr als tausendachthundert Metern Höhe einen Tatort besichtigen und eine Leiche bergen musste, widerte ihn an. Er hatte sich auf einen geruhsamen Tag im Büro gefreut. Das konnte er sich jetzt abschminken. Thalmann wusste um die Bedeutung von Salzstein und hatte schon lange im Geheimen gehofft, dass man den umstrittenen Künstler niemals finden möge. Und jetzt das. «Hoffentlich war es ein Unfall», dachte er beim Anblick des Toten, auch wenn er sich kaum vorstellen konnte, wie und aus welchen Gründen auch immer ein Mensch in eine Jauchegrube auf einer Alp in den Bergen fällt. «Und wenn es kein Unfall war, dann bitte ein Selbstmord», spann er die Gedanken weiter. Alles, nur kein Mord, das hätte ihm gerade noch gefehlt, dachte er, während ihm Saul Hof und Stall zeigte.
«Das ist die Irma, das Rind, das in die Grube gefallen ist, weil sie der Melchior offen stehen liess», sagte Saul. «Der Irma ist es zu verdanken, dass wir den armen Kerl überhaupt gefunden haben», scherzte Saul. «Ansonsten wäre er friedlich vor sich hingemodert und niemand hätte ihn jemals gefunden. Letztendlich hätten wir mit ihm die Alpwiesen gedüngt.»
Dem Kriminalpolizisten in Zivil war überhaupt nicht nach Scherzen zumute. Aber die Vorstellung, dass man Salzstein nie gefunden und mit ihm irgendwann Wiesen gedüngt hätte, gefiel ihm. In Gedanken malte sich Thalmann aus, was jetzt alles auf ihn und die Kriminaltechniker zukommen würde: den Tat- oder Unfallort absperren, nach Spuren jeglicher Art suchen, die Jauchegrube auspumpen und nach Hinweisen untersuchen, die Leiche zur Rechtsmedizin überführen und hoffen, dass es ein Unfall war, Angehörige von Salzstein über dessen Ableben informieren, Saul, seine Frau und den Zusenn vernehmen und wahrscheinlich für das Protokoll vorladen, Berichte schreiben, unter Umständen nach Leipzig reisen und weitere Leute befragen. Alles Dinge, die ihm sehr zuwider waren. Schliesslich hatte er sich hierher versetzen lassen, um die letzten paar Jahre bis zur Pension mehr oder weniger abzusitzen, eine ruhige Kugel zu schieben. Mordfälle hatte er schon genug untersucht. In Zürich, wo er Zeit seines Lebens gewohnt und gearbeitet hatte, bis zu jenem schrecklichen Mord, der in ihm den Entschluss heranreifen liess, der Stadt den Rücken zu kehren und sich irgendwohin aufs Land versetzen zu lassen, wo Verbrechen solcher Art nicht begangen werden. Was er dann auch getan hatte, nachdem er seine Vorgesetzten in dieser Angelegenheit nach langem Hin und Her überzeugen konnte. Sie liessen ihn nur ungern ziehen, ihn, Tasso Thalmann, der mit einer Aufklärungsquote von beinahe neunzig Prozent aufwarten konnte. «Aber genug ist genug», dachte er und nahm das Angebot von der Glarner Regierung an, für sie als Kriminalinspektor zu arbeiten. Dass sich damals seine Frau von ihm trennte, weil er sie schon über Jahre hinweg ein- bis zweimal pro Monat mit jungen Nutten aus aller Herren Länder betrogen hatte, war mit ein Grund, Zürich zu verlassen. Und eben dieser schreckliche Mord, der ihm dermassen an die Nieren ging.
Das war vor gut drei Jahren. Und während dieser Zeit passierte kein Tötungsdelikt im Glarnerland. Alles lief genauso, wie er es sich ausgemalt hatte. Bis zum heutigen Tag. Er sah schon die Schlagzeilen in den «Glarner Nachrichten»: Grausiger Fund auf Alp Fessis – war es Mord, Unfall oder Selbstmord? – Fäkalkünstler stirbt in Jauchegrube – Unrat wird berühmtem Künstler zum Verhängnis – oder so was in der Art. Und dann all die anderen Zeitungen im In- und Ausland, die diese Geschichte aufgreifen. Beim Gedanken daran wurde ihm schlecht.
«Haben Sie ein Glas Wasser für mich?», fragte er Saul, der seinen Augen nicht traute, als er mitansehen musste, wie ein junger Polizist den Fundort weiträumig absperrte.
«Was tut er da?»
«Er macht nur seinen Job. Haben Sie ein Glas Wasser für mich?»
«Sie wollen Wasser? Dann gehen Sie zum Brunnen.»
Ein leiser Seufzer entfuhr Thalmann, ein Seufzer, der vom Grunde seiner Seele zu kommen schien.
«Und wo ist der Brunnen?»
«Vor dem Haus. Brutus, zeig dem Kommissar, wo der Brunnen steht.»
«Schon gut, ich werde ihn auch ohne den Hund finden.»
Tasso Thalmann schritt über den unebenen Boden zum Brunnen vor dem Haus, wo er den Durst löschte. Natürlich begleitete ihn Brutus. Der Sennenhund war offenbar der einzige, der sich über diesen unerwarteten und ungewöhnlichen Aufmarsch fremder Leute freute. Thalmann  betrachtete den quirligen Vierbeiner und wischte sich mit dem Taschentuch den Mund ab, bevor er den Blick über die Alp schweifen liess und sofort das Gefühl hatte, dieser Ort sei von der Welt vergessen worden. Aber das würde sich nun ändern. Dieser Ort würde eine traurige Berühmtheit erlangen. «Dem Silas Elmer wird das bestimmt nicht gefallen», dachte er, als er zurück hinters Haus lief.
«Wie lange bleibt die Absperrung?», wollte Saul wissen.
«So lange sie nötig ist. Ich bitte Sie dafür zu sorgen, dass keines der Tiere hinter die Absperrung gelangt. Auch Hund und Hühner nicht.»
«Und wie soll ich das machen?»
«Ihnen wird schon was einfallen.»
Saul begann lautstark zu fluchen. Sein Gezeter wurde aber augenblicklich vom startenden Hubschrauber übertönt.
«Warum fliegen die weg, ohne den Toten mitzunehmen?»
«Es kommen noch mehr Leute», antwortete Thalmann, «Rechtsmediziner aus Zürich.»
«Noch mehr Leute?! Das gefällt mir aber gar nicht!»
«Was Ihnen gefällt und was nicht, interessiert niemanden. Wir haben hier einen berühmten toten Künstler aus Deutschland, der unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist. Hier gibt es viel zu tun. Sorgen Sie dafür, dass meine Leute in Ruhe arbeiten können.»
«Was gibt es hier schon viel für Sie zu tun? Schaffen Sie gefälligst den Künstler weg und verschwinden Sie!»
«Glauben Sie mir, Herr Elmer, diese ganze Schweinerei widert mich unsäglich an, und ich wünsche mir nichts lieber, als so schnell wie möglich wieder von Ihrer Alp runterzukommen. Aber wir müssen nun mal tun, was wir tun müssen. Also, reissen Sie sich zusammen, halten Sie sich zur Verfügung, wenn wir Sie brauchen, und passen Sie gefälligst auf, wo Sie hintreten.»
«Und mich widert es an, wenn Leute wie Sie und Ihre Truppe den Frieden und die Ruhe auf meiner Alp stören. Was meinen Sie denn, halten die Tiere von diesem Theater!? Die werden ja noch ganz verrückt!»
«Dem Hund scheint es zu gefallen», erwiderte Thalmann, «den Hühnern scheint es egal zu sein und die Rinder und Kühe ignorieren uns sowieso mit stoischer Gelassenheit.»
Tasso Thalmann versicherte dem aufgebrachten Saul noch einmal, dass er sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Sie würden so schnell wie möglich wieder abziehen, das läge in aller Interessen. Saul brummelte Unverständliches in den Bart und verschwand um die Ecke. Brutus blieb schwanzwedelnd bei Thalmann stehen, der ihm den Kopf tätschelte und ihn aufforderte, ihn zu begleiten. Er wollte sich bis zur Rückkehr des Hubschraubers die nähere Umgebung anschauen. Sich einen Überblick verschaffen.
«Komm Kleiner, zeig mir dein Zuhause.»
Salzsteins Körper stank fürchterlich, nicht nur wegen der Gülle, die den Leib bedeckte, sondern vielmehr wegen der Gase, die dem aufgedunsenen Körper entwichen. Die Verwesung musste sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befinden, das war offensichtlich. «Kein Wunder», dachte Thalmann, «es gibt nirgends mehr Bakterien als in Gülle.» Und viele Bakterien beschleunigen den Verwesungsprozess. Erstaunlich, dass nach gut zweieinhalb Wochen überhaupt noch so viel von Salzstein übrig war. Für Thalmann stand sofort fest, dass die Leiche vorher woanders gelegen haben musste. Jemand hat sie irgendwann hierher gebracht und in die Jauchegrube geworfen, um ihn auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Der Rechtsmediziner würde bald eintreffen und erste Untersuchungen vor Ort durchführen. Der würde ihm mit Sicherheit sagen können, wie lange der Tote wo gelegen hat. Und vielleicht auch schon, woran er gestorben ist.
Thalmann wandte sich angewidert von der stinkenden Leiche ab, streifte sich Plastikhandschuhe über und schickte sich an, den Rucksack des Unglücklichen einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Vor allem der seltsame Inhalt interessierte ihn. Mindestens ein Dutzend verschieden grosse Einmachgläser waren darin. Die Gläser waren verschmutzt, man konnte kaum erkennen, was in ihnen war. Thalmann öffnete  eines und leerte den Inhalt aus.
«In den Gläsern befindet sich Scheisse von verschiedenen Tieren», sagte Polizist Hans Heinrich Hefti, der inzwischen hinter ihn getreten war. «Offensichtlich hat er das Zeug gesammelt. Brauchte es wahrscheinlich für seine Kunst. Er soll ja mit Scheisse gemalt haben.»
«Sieht so aus», meinte Thalmann. «Ich will wissen, was für Scheisse sich in den Gläsern befindet. Vielleicht können wir so herausfinden, welchen Weg Salzstein gegangen war, bevor ihm etwas zugestossen ist.»
Thalmann reichte den verdreckten Rucksack mit dem kotigen Inhalt dem Gehilfen, der ihn angewidert entgegennahm. Er legte den Kopf ins Genick und suchte den Himmel nach dem Hubschrauber ab, dessen Rotorgeräusche gut zu hören waren. Brutus begann wieder zu kläffen, die herumstehenden Rinder liessen sich nicht stören. Nachdem die Maschine gelandet war, stiegen zwei in weisse Overalls gekleidete Männer aus. Sie trugen metallene Koffer bei sich. Thalmann winkte sie zu sich. Sofort erkannte er seinen alten Kollegen Professor Doktor Hubertus Huber vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich. Thalmann hatte darauf bestanden, den Freund aus Zürich herbeizuschaffen, nicht nur weil ihm der Umgang mit Huber vertraut war, sondern vor allem, weil er unangefochten die Nummer eins war in der Rechtsmedizin der Schweiz.
«Tasso, mein Freund, wie geht es dir?»
Der kleine Dicke reichte Thalmann die Hand.
«Schön dich zu sehen, Hubertus. Mir geht es gut.» Thalmann führte Huber und seinen Kollegen zur Leiche Salzsteins. «Was man von diesem armen Kerl ganz und gar nicht behaupten kann. Muss schrecklich sein, in Gülle zu ertrinken.»
«Gute Luft habt ihr hier oben», meinte der Dicke und liess den Blick über die höher gelegenen Weiden schweifen, die mit imposanten Felsbrocken und Steinen durchsetzt waren. Überall standen Kühe und Rinder herum, die sich üppiges Gras und gesunde Kräuter einverleibten. «Ich muss schon sagen, das hier ist eine schöne Alp, ein wirklich schöner Flecken.»
«Ja ja, schon recht. Das hier ist ein wirklich schöner Ort zum Sterben.»
«In der Tat, mein Lieber. Dann lass uns diesen Salzstein mal anschauen.»
«Da gibt es nicht viel zu sehen. Der ist komplett eingepuppt in Scheisse.»
«Schnabel, sorgen Sie dafür, dass die Scheisse vom Körper runterkommt. Vor allem vom Gesicht. Kriegt man hier einen Kaffee?»
«Möglich. Wir sollten ins Haus gehen und die Bauersfrau darum bitten. Keine einfachen Leute hier oben.»

«Wollen Sie zum Kaffee etwas Brot, Käse und Wurst?», fragte Maria Magdalena.
«Da sag ich nicht nein», frohlockte Professor Huber und setzte sich an den Tisch in der bescheidenen Küche.
Maria Magdalena kredenzte ein Frühstück, wie es die beiden selten gegessen hatten: selbst gebackenes Brot, selbst gemachte Butter, selbst gemachte Wurstwaren, verschiedene Käsesorten, frische Kuhmilch, Kaffee und Kuchen und ein Gläschen Selbstgebrannten. Huber langte kräftig zu. Thalmann hielt sich zurück, nahm von allem nur kleine Häppchen.
«Nun genieren Sie sich nicht, Herr Kommissar, langen Sie zu, es ist genug von allem da», forderte Maria Magdalena Thalmann auf.
«Frau Elmer, kommen hier bei Ihnen viele Wandersleute vorbei?», fragte Thalmann.
«Was heisst viele? Es kommt immer mal wieder der eine oder der andere hier oben vorbei. Auf dem Weg zu den Fessis-Seelein. Oder um unseren frischen Alpkäse zu kaufen. Die Seelein müssen Sie sich unbedingt anschauen. Es lohnt sich.»
«Ihnen ist also in letzter Zeit niemand aufgefallen? Hat sich vielleicht jemand das Gehöft angeschaut oder sich nach der Jauchegrube erkundigt?»
«Nein. Bestimmt nicht. Da war niemand, der sich für unsere Gülle inte­ressierte.»
«Verstehe», sagte Thalmann nachdenklich. «Hat es hier oben schon mal einen Unfall gegeben?»
«Ja. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Mein Schwiegervater ist hingefallen und hat sich den Kopf gestossen. War stockbesoffen wie immer. Als ihn mein Mann wenige Meter unterhalb von Chrummböden gefunden hat, war es schon zu spät.»
«Interessant», horchte Thalmann auf, «und es war bestimmt ein Unfall?»
«Es war ein Unfall, ja. Der Herrgott hat ihn zu sich geholt.»
Maria Magdalena bekreuzigte sich.
«Was war ihr Schwiegervater für ein Mensch, Frau Elmer?»
«Oh, er war ein schwieriger Mensch. Ein regelrechter Tyrann. Machte allen das Leben schwer, vor allem dem eigenen Sohn, er schikanierte ihn, wo immer er konnte. Er soff von morgens bis abends seinen Selbstgebrannten. Mein Mann Saul hat ihn mit zertrümmertem Schädel gefunden.»
«Warum nennen Sie Ihren Gatten Saul? Sein Name ist doch Silas.»
«Ach Herr Kommissar, das wüsste ich auch gerne. Seit ich meinen Mann kenne, wird er Saul gerufen, warum auch immer. Das müssen Sie ihn schon selber fragen.»
«Wie hiess Ihr Schwiegervater?»
«Jeremias», antwortete Maria Magdalena.
«Jeremias, der Name eines Propheten aus dem Alten Testament. Interessant», sagte Thalmann. «Haben hier oben alle biblische Namen?»
«Es scheint so, Herr Kommissar. Aber das hat nichts zu bedeuten. Wir sind nicht besonders gottesfürchtig hier oben.»
«Und über den Verlust Ihres Schwiegervaters sind demnach alle schnell hinweggekommen?»
«Wie meinen Sie das, Herr Kommissar?»
«Na, es hat ihn keiner vermisst, am wenigsten der Saul. Keiner hat ihm eine Träne nachgeweint.»
«Jeremias war ein böser Mensch, Herr Kommissar.» Maria Magdalena bekreuzigte sich erneut. «Da haben Sie völlig recht. Niemand vermisste ihn, nicht einmal die Tiere. Er war von einer Aura aus Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid umgeben, die sich in Zorn und Bösartigkeit verkehrte und einen Ekel hervorrief, dass man ihm nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Und das galt auch für die Tiere.»
«Verstehe», sagte Thalmann, «der Jeremias war ein Ekel, wie es im Buche steht.»
«Ja. Das war er.»
«Und niemand hat gesehen, wie der betrunkene Jeremias gefallen und zu Tode gekommen ist?»
«Nicht dass ich wüsste, Herr Kommissar. Es war ein Unfall.»
«Verstehe. Wie hoch ist der Melkstand auf Chrummböden gelegen? Und wie lange braucht man da hinauf?»
«Ein geübter Berggänger braucht für die zweihundertfünfzig Höhenmeter keine halbe Stunde. Der Melkstand liegt auf gut zweitausendeinhundert Metern. Wollen Sie etwa da hinauf steigen, Herr Kommissar?»
«Gut möglich, Frau Elmer. Vielen Dank für das Frühstück.»
Nur schon beim Gedanken daran, wie hoch Chrummböden gelegen ist, schwindelte es Thalmann. Er und Huber, der ein bisschen aussah wie ein Astronaut, verliessen die Küche und stapften zur Leiche Salzsteins zurück.
«Einen hervorragenden Käse machen sie hier oben», schwärmte der dicke Huber. «Dann schauen wir mal, was uns der Tote zu erzählen hat.»
Hubers Assistent hatte die Leiche vom Unrat befreit, so gut es eben ging. Salzsteins Gesicht war wie der Rest des Körpers aufgedunsen. Es sah widerlich aus.
«Ihm fehlt das linke Auge», sagte Huber. «Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass dieser Mensch an angeborener Einäugigkeit litt. Mit ziemlicher Sicherheit war er Träger eines Glasauges.»
«Interessant», sagte Thalmann, «und wo ist das Auge jetzt?»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich in der Jauchegrube. Ist ihm wohl rausgefallen. Die Grube muss ausgepumpt werden.»
«Scheisse! Das hat uns gerade noch gefehlt.»
«Hoffen wir, dass der Bauer mit dem königlichen Namen eine Pumpe hat.»
«Gibt es Verletzungen am Kopf?»
«Ohne Zweifel ist er ins Gesicht geschlagen worden», antwortete Huber.
«Wie lange ist er schon tot?»
«Schwer zu sagen. In Gülle findet der Verwesungsprozess schneller statt als in Wasser oder an der Luft. Den genauen Todeszeitpunkt kann ich dir erst nach der Obduktion sagen. So wie es aussieht, hat er nicht länger als ein paar Tage in der Scheisse gelegen. Tot ist er aber bedeutend länger.»
«Das glaube ich auch. Salzstein wird seit zweieinhalb Wochen vermisst. Umgekommen ist er bestimmt nicht in diesem Loch, davon können wir ausgehen. Hier handelt es sich kaum um einen Unfall oder Selbstmord.»
«Bestimmt nicht, Tasso, hier hat jemand kräftig nachgeholfen.» Huber erhob sich ächzend. «Das wars Tasso, vor Ort kann ich nichts weiter tun. Mehr kann ich dir erst nach der Obduktion sagen.»
Huber veranlasste, dass die Leiche umgehend eingepackt, eingesargt und in den Hubschrauber verfrachtet wurde. Keine dreissig Minuten später waren der dicke Professor und sein Assistent zusammen mit Salzsteins stinkender Leiche auf dem Flug zurück nach Zürich ins Institut für Rechtsmedizin. Thalmann schaute dem Hubschrauber nach, bis er verschwunden war. Der schlimmstmögliche Fall war eingetreten: Es war Mord. Mord an einem Künstler. Mord an einem Ausländer. Thalmann rümpfte die Nase, bevor er sich an die Leute von der Spurensicherung wandte, die hinter der Absperrung in Tyvek-Anzügen am Boden kauerten und gewissenhaft die Tatortarbeit verrichteten. Dass sie hier nicht mehr viel finden würden, darüber war sich der Kommissar im Klaren.
«Und Männer. Was Brauchbares gefunden?»
«Machen Sie Witze, Herr Kommissar», sagte einer der Kriminaltechniker, «die einzigen, die hier Spuren hinterlassen, sind Rinder und Kühe, und zwar in Form von Fladen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dann sind da natürlich noch die Spuren der Bauersleute. Die haben sich richtig Mühe gegeben, alles zu verwischen und durcheinanderzubringen. Ausserdem hat es in den letzten Tagen immer wieder geregnet. Hat den Boden aufgeweicht wie einen Schwamm. Ich bezweifle, dass wir hier was Brauchbares finden.»
«Vielleicht verbirgt sich was unter oder in den Kuhfladen. Ich will, dass die Hinterlassenschaften genauestens untersucht werden.»
«Sie wollen, dass wir jeden Kuhfladen untersuchen? Dass wir in der Scheisse rumstochern? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!»
«Und ob das mein Ernst ist. Das Opfer war schliesslich Künstler, der Fäkalkünstler, was bedeutet, dass wir unser Augenmerk besonders auf Hinterlassenschaften richten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und sorgen Sie dafür, dass die Jauchegrube ausgepumpt wird. Der Silas Elmer hat bestimmt die nötigen Werkzeuge dafür.»
«Hoffen wir es», murrte der Kriminaltechniker.
«Wir suchen nach dem Glasauge, das der Tote getragen hat. Die Gülle muss irgendwie durchgesiebt werden.»
«Irgendwie durchgesiebt werden?! Und wie stellen Sie sich das vor?»
«Lassen Sie sich was einfallen.»