Bruder Hugo


Auszug aus dem zweiundzwanzigsten Kapitel
Bruder Hugo

Als ich eines Tages während der Mittagszeit unter einem schattenspendenden Baum sass, näherten sich mir ein paar Kühe, die auf der Suche nach Nahrung waren. Aufmerksam beobachtete ich die Viecher und fragte mich, ob die Tiere den Unterschied zwischen Gestern, Heute und Morgen kennen. Bestimmt nicht. Sie leben im Moment, unfähig, sich an das Vergangene zu erinnern, festgemacht an den Pflock des Augenblicks verbringen sie ein glückliches Dasein, ohne zu wissen, was Glück bedeutet. Neidisch blickte ich auf die Rindviecher, wie sie in der sengenden Sonne auf dem staubigen Platz standen, weder schwermütig noch überdrüssig – und nicht wissend, warum sie gerade hier und jetzt an diesem Ort waren. Ohne Vergangenheit und Zukunft leben sie in einer Gegenwart, die alsogleich vergangen sein wird, und an die sie sich niemals erinnern werden. Sie klammern sich nicht wie der Mensch an die Historie und lassen sich von deren stetig wachsenden Last erdrücken. Vielmehr vergessen sie sofort und sehen jeden Augenblick wirklich sterben. Jeden Augenblick, der unaufgefordert und gemäss den Naturgesetzen einfach da ist, der vorher ein Nichts war und nachher ein Nichts sein wird. Wahres Glück, wie es die Kühe erfahren, mein lieber Guillaume, könnte dem Menschen nur dann widerfahren, wenn er unhistorisch, also ohne Erinnerungsvermögen lebt. Was muss es für ein Gefühl sein, im Moment des Todes nicht zu wissen, dass man gelebt hat, weil man sich nicht daran erinnert. Ein Leben nur im Jetzt, ohne Gestern und Morgen – wäre das wünschenswert, mein lieber Guillaume?
Im Gegensatz zu mir war es für meinen kleinen Mufti ein Leichtes, Kontakt mit den Einheimischen zu knüpfen, auch wenn er Hindi nur ansatzweise sprach. Eines Tages eröffnete er mir – wir trieben uns gerade im Norden des Landes herum –, dass er für eine Zeitlang mit buddhistischen Mönchen zu leben beabsichtigte, um von ihnen die entsprechenden Anleitungen zu erhalten, wie er dieses irdische Jammertal für immer verlassen und dem Kreislauf der Wiedergeburt endlich entkommen könne. Und da ich mich ihm nicht anschliessen wolle, solle ich während seiner Abwesenheit den irdischen Genüssen frönen, die dieses wundervolle Land zu bieten habe. Ich liess ihn ziehen und wünschte ihm viel Glück bei seiner spirituellen Entwicklung. Wir trennten uns in Benares, der Stadt des Lichts, und wollten uns fünf Monate später am selben Ort wieder treffen. Der kleine Mufti liess sich den Kopf kahl scheren, gewandete sich in der Manier der buddhistischen Mönche und zog mit Seinesgleichen als mittelloser Bettelmönch durch den Norden Indiens bis nach Nepal, wo er den Geburtsort Buddhas besuchte. Ich meinerseits liess es mir in Benares gutgehen. Als eine der ältesten Städte Indiens und als heiligster Ort des Hinduismus bot mir diese Stadt eine Menge spirituelle Unterhaltung, zumal in Benares und Umgebung nebst den Hindus auch zahlreiche Muslime leben. Ich nahm meine Tätigkeit als Schreiber und Übersetzer wieder auf.
Aus allen Teilen Indiens pilgern strenggläubige Hindus nach Benares, um im heiligen Fluss ein Bad zu nehmen. Auf kilometerlangen stufenartigen Uferbefestigungen bereiten sich täglich Tausende Hindus auf die zeremonielle Waschung in den heiligen Wassern des Ganges vor, durch welche der Gläubige von seinen Sünden gereinigt werden soll, während gleichzeitig ein paar Meter weiter die Leichen der Verstorbenen verbrannt werden. Um sich vor einer lästigen Wiedergeburt zu schützen, soll es für den Hindu erstrebenswert sein, dereinst in Benares zu sterben und verbrannt zu werden. Das alles erinnerte mich sehr an den Haddsch der Muslime. Stundenlang sass ich am Ufer des Ganges und betrachtete vergnügt, wie Frauen, Kinder, Männer und viele ausgemergelte Greise mit verfilztem Haar und langen Bärten im schmutzigen, stinkenden Wasser standen und versuchten, sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Was für eine Ironie. Es war einmal mehr beruhigend zu sehen, dass der Mensch sündigt und in seiner Verzweiflung irgendwohin pilgert, um von seiner Last befreit zu werden.
Stellen Sie sich vor, mein lieber Guillaume, alle Christen Europas würden nach Rom pilgern, sich im Tiber waschen und sich zum Sterben hinlegen. – Ich verbrachte viele Stunden des Müssiggangs an den Ufern des heiligen Flusses, während derer ich die Hindus beobachtete, mir aber ständig einzureden versuchte, dass ich Buddhist sei. «Du bist Buddhist. Du bist Buddhist», sprach ich in Gedanken und konzentrierte mich auf meine Nasenspitze, die von kaum spürbaren Luftverwirbelungen umspielt wurde – hervorgerufen durch meinen ruhigen Atem. Du bist Buddhist ist der wahrscheinlich kürzeste Schüttelreim, den ich kenne, mein lieber Guillaume. Zu dieser Erkenntnis kam ich ziemlich schnell. Meines Erachtens ist der Buddhismus ein Glauben für die Intellektuellen, für die geistige Elite, und trotzdem blieb es mir verwehrt, die Lehre Buddhas richtig zu verstehen. Unglaublich. Mein kleiner Mufti hat mir immer wieder gesagt, dass ich den wahren Glauben nicht finden wolle, geschweige denn verstehen, weil ich kein wirklich Suchender sei, sondern wie er lediglich ein Sammler, der nichts anderes im Sinn habe, als Glaubenswelten kennenzulernen, um sich ein allumfassendes Bild zu machen von der Naivität und Labilität der Menschen, die letztendlich alle gleich seien und ihrer Hilflosigkeit, die sich darin bemerkbar macht, dass sich der Mensch seit jeher an Trugbilder klammert, für alle Zeiten ausgeliefert seien.
Da hatte mein kleiner Mufti natürlich recht. Ich bin ein Sammler. Eines Tages setzte sich ein Shudra neben mich und hatte den Mut, mich anzusprechen. Er fragte mich, warum ich jeden Tag stundenlang an den Ufern des Ganges sässe, aber immer noch kein reinigendes Bad genommen hätte. Barsch erwiderte ich ihm, dass ihn das nichts anginge und er verschwinden solle. Er grinste mich nur dämlich an und machte keine Anstalten aufzustehen. Im Gegenteil, unaufgefordert begann er, das Treiben an den Ufern und im Wasser zu kommentieren.
«Ich nehme mal an, Sie sind frei von Sünde und nehmen deshalb kein Bad. Dass Sie kein Hindu sind, das kann ich riechen. Und obwohl Sie hier hocken, wo sich die Shudras waschen, sind Sie keiner von uns. Sie gehören auch keiner anderen Kaste an, dafür sind Sie einfach zu fremdartig. Sie müssen ein Reisender sein, der Kurzweil besonderer Art sucht, diese aber nicht findet, weil er sich nicht gut genug auskennt in Benares. Ich hingegen kenne mich aus in dieser Stadt und kann Ihnen helfen, das zu finden, wonach Sie suchen.»
Der Shudra lächelte mich von der Seite an wie ein mieser kleiner Intrigant, der die letzten Geheimnisse dieser Welt zu kennen meint. Dabei zeigte er mir sein lückenhaftes Gebiss, und sein stinkender Atem raubte mir beinahe die Besinnung. Trotzdem jagte ich ihn nicht zum Teufel. Vielmehr liess ich ihn sprechen und folgte ihm schliesslich in das Labyrinth enger Gassen, das von den Shudras bewohnt wird und das ich bis anhin gemieden hatte, weil man mir verschiedentlich geraten hatte, eben dies zu tun. Natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt schon lange Bescheid über das Kastenwesen in Indien. Vor gut dreitausend Jahren drang ein fremdes Volk aus Nordwesten in Indien ein und versuchte – wie üblich bei Invasoren – der Urbevölkerung ihren Glauben aufzunötigen. Doch je weiter die
Ayra – die edlen Leute – in fremde Gebiete vordrangen, desto grösser wurde der Widerstand der Einheimischen, was zur Folge hatte, dass die Eroberer sich je länger je weniger der uralten Religion der Harappaner entziehen konnten. Langsam, aber sicher verschmolzen die beiden Religionen, und aus dem Glauben der Urbevölkerung Nordindiens und der Veda-Religion der arischen Eroberer ging schliesslich der Hinduismus hervor. Der Hinduismus, mein lieber Guillaume, ein Musterbeispiel an Toleranz und Verbundenheit. Dieser spirituellen Offenheit steht leider ein streng gegliedertes Gesellschaftssystem gegenüber, das von den patriarchalischen Ariern eingeführt wurde und das deutlicher als irgendwo sonst zwischen Ober- und Unterschicht unterscheidet.
Der Shudra führte mich in Teile der Stadt, wo vornehmlich Seinesgleichen und der Bodensatz der indischen Bevölkerung lebten: die Parias – die Unberührbaren. Die stinkenden Gassen wurden immer enger, überall sassen zwischen Kothaufen und Unrat verschmutzte Kinder, die einen aus trüben Augen anstarrten. Die Parias meiden den Kontakt zu den anderen Klassen, sie leben unter sich und verrichten Arbeiten, für die sich Sklaven und Diener zu schade sind. Sie stehen ausserhalb des Systems und werden von der untersten Schicht geknechtet und ausgebeutet. Was nützt einem die spirituelle Freiheit, wenn man schon als Sklave geboren und von der übrigen Gesellschaft regelrecht zertreten wird? Trotzdem akzeptieren die Parias ihre Bestimmung. Denn wie die Priester, die tapferen und stolzen Krieger, die hart arbeitenden Bauern oder die geknechteten Diener und Sklaven hadern auch die Unberührbaren nicht mit ihrem Schicksal, weil jeder Hindu, mag es ihm noch so gut oder schlecht ergehen, über mehr als nur die Hoffnung verfügt, nämlich über die Gewissheit des Glaubens, dessen Vorschriften und Riten zu befolgen er als seine naturgegebene Pflicht betrachtet, will er doch nichts sehnlicher, als in seinen nächsten Leben in eine höhere Kaste und letztendlich ins Nirvana aufzusteigen. Wie er das anstellt, hat jeder selbst in der Hand, weiss er doch, dass sein mehr oder minder beklagenswertes Los im gegenwärtigen Leben das Resultat des eigenen Verhaltens im vorangegangenen Leben ist.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und ich hatte meine liebe Mühe, dem Shudra zu folgen. Überall stierten mich aus finsteren Löchern leuchtende Augen an, und ich muss gestehen, mein lieber Guillaume, zum ersten Mal in meinem Leben bemächtigte sich meiner eine Furcht, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Wie Geistwesen tauchten aus dem Dunkel unheimliche und verkrüppelte Menschen auf und verschwanden ebenso schnell wieder in der Finsternis. Auch wenn ich sie nicht sehen konnte, spürte ich ihre Anwesenheit. Ich fragte mich unablässig, wohin mich dieser schmierige Arschkriecher führte. Wir verliessen das Armengetto und gelangten in ein Viertel, wo sich hinduistische und buddhistische Tempel aneinanderreihten. Vor einem unscheinbaren steinernen Haus machten wir Halt und der Shudra hiess mich einzutreten, wobei er dämlich grinste und mir die offene Hand entgegenhielt. Ich entrichtete ihm einen bescheidenen Obolus, den er fluchend annahm und in der Dunkelheit verschwand. Da stand ich also. Vor einem verschlossenen Gebäude in einem Teil der Stadt, wo ich mich nicht auskannte. Neugierig wie ich bin, klopfte ich kräftig an die Pforte. Nach einer Weile öffnete ein verkrüppelter junger Kerl ohne Beine eine in das hölzerne Tor eingearbeitete Tür und deutete mir an einzutreten. Ich frage mich heute noch, wie er diese Tür geöffnet hatte. Sein Torso war auf einem kleinen Wägelchen mit quietschenden Rädchen festgezurrt, das er mit seinen schmutzigen Händen antrieb, indem er diese flink wie ein Tempeläffchen auf den Boden drückte und kräftig abstiess. Er geleitete mich zu einer Treppe, die steil nach unten führte. Ich warf dieser bemitleidenswerten Kreatur eine Münze vor die Räder und schritt die Treppe hinab. Tief unter der stinkenden Stadt eröffnete sich mir ein Paradies auf Erden. Mein lieber Guillaume, ich kam nirgends der Erleuchtung näher als an diesem Ort der spirituellen Leidenschaft, wo sich Mann und Frau mittels akrobatischer Kopulationsmanöver in unerreichbare Gefilde der Lust emporheben. Ich trat nach einer neuerlichen Entrichtung eines Obolus’ an einen kräftigen, stark behaarten Shudra mit freundlichem Gesicht durch eine schwere Tür in ein Gewölbe beträchtlichen Ausmasses, in dessen Mitte sich eine drehende Holzkonstruktion befand. Auf diesem runden Podium stand ein riesiges Himmelbett, auf dem sich ein indisches Pärchen hemmungslos der Lust hingab. Ich traute meinen Augen nicht und wähnte mich in einem Traum. Überall in dem Gewölbe räkelten sich leicht bekleidete, stark geschminkte Frauenzimmer auf bunten Kissen, eine betörender als die andere. Es roch nach Räucherstäbchen und Haschisch. In einer Ecke des Gewölbes führte eine Art steinerne Wendeltreppe auf eine Balustrade, von der wunderschöne hindustanische Musik erklang, die ein paar Musiker mit ihren Sitars, Sarangis und Tablas erzeugten. Wie angewurzelt stand ich da, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun, zu schön und unwirklich war dieser Tempel der Lust.
Sie müssen wissen, mein lieber Guillaume, dass sich nicht alle Hindus in Meditation oder Askese üben, um sein Atman auf eine höhere Daseinsform nach der nächsten Wiedergeburt vorzubereiten. Nicht wenige versuchen, durch rituell ausgeübte Sexualität eben jene Energien freizusetzen, die eine höhere Daseinsform im nächsten Leben ermöglichen sollen. Dabei richten sie sich streng nach den Texten des Kamasutra, den Versen des Verlangens, die zu lesen ich natürlich auch die Gelegenheit hatte und die ich aus dem Sanskrit ins Französische übertrug. Sollten wir jemals wieder zurück in die Wirklichkeit finden, überlasse ich Ihnen für einen Augenschein mit Vergnügen meine Transkription dieses einmaligen Erotiklehrbuchs aus längst vergangenen Zeiten. Sie werden Ihre helle Freude daran haben.
Da stand ich nun zwischen kopulierenden Hindus, die in ihrer Entrücktheit keine Notiz von mir nahmen. Langsam erwachte ich aus meiner Starrheit und lustwandelte bedächtigen Schrittes durch das Gewölbe, das erfüllt war vom würzigen Rauch der Duftstäbchen und dem scharfen Geruch, den die vielen nackten Körper aus sämtlichen Poren verströmten. Ich muss gestehen, dass mich diese visuellen, auditiven und olfaktorischen Reize schon bald gehörig in Wallung brachten. Trotzdem hielt ich meine Libido in Schranken und begnügte mich mit dem, was sich meinen lüsternen Blicken darbot. Da übten Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, ja sogar Männer mit Männern sehr ungewöhnliche Sexualpraktiken aus. Jedes Pärchen stieg mindestens einmal in das Himmelbett, wo es sich in akrobatischen Verrenkungen wieder und wieder vereinigte, bis sich die Kopulierenden auf dem Höhepunkt ihrer Lust unter lautem Gestöhne und wilden Zuckungen bisweilen versteiften, bevor sie von dem runden Podium herabstiegen und sich erschöpft unter die anderen mischten, in der Gewissheit, dass sie der Erleuchtung wieder einen Schritt näher gekommen sind. Abgesehen von den Dienern, die allesamt kleinwüchsige Shudras waren, die sich aufmerksam um die Gäste kümmerten, entstammten alle Anwesenden der indischen Elite. Da waren etliche Priester, Adelige, Kaufleute und Krieger und ein paar wenige Bauern, die sich mit den anwesenden Damen verlustierten. Bei den Frauen handelte es sich vornehmlich um Tempelhuren, die an diesem Ort, wo sich die Welt der Götter und die Welt der Menschen auf besondere Art berühren, ihre Liebesdienste anboten.
Eines Abends fragte ich eine der Liebesdienerinnen, welcher Kaste sie und ihre Kolleginnen angehörten. Darauf antwortete mir dieses wohlfeile Geschöpf der Natur, dass alle Tempeltänzerinnen und Gottesdienerinnen einer eigenen Kaste angehörten und sie durch ihre besondere Arbeit nicht nur von den Göttern, mit denen sie symbolisch verheiratet seien, beschützt, sondern auch von den Angehörigen der Oberschicht sehr wohlwollend behandelt würden. Es sei ihnen sogar erlaubt, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Dann erzählte sie mir, woraus die verschiedenen Kasten hervorgegangen seien, nämlich aus dem Körper eines mythischen Riesen. Die Brahmanen entstanden laut ihren Worten aus dem Mund des Giganten, die Krieger aus dessen kräftigen Armen und die Handwerker, Bauern und Händler aus seinen Schenkeln. Und die Shudras, die für die über ihnen stehenden Kasten die harte Arbeit verrichten, entstammen folglich den Füssen des Riesen, die seinen schweren Körper tragen müssen. Ich konnte nicht umhin zu denken, dass die Tempelhuren womöglich aus dem mächtigen Phallus dieses mythischen Wesens hervorgegangen sind.
Die Devadasi schien grossen Gefallen an mir zu finden und machte ständig Anstalten, mich zu verführen. Ich widerstand ihr vorerst, mimte den unwissenden Reisenden und machte sie glauben, von ihr über das Kamasutra und die hinduistischen Götter aufgeklärt zu werden. Während wir zusammen Haschisch rauchten, das uns von einem der kleingewachsenen Shudras gebracht wurde, zeigte sie mit ihrer kunstvoll bemalten Hand nacheinander auf verschiedene Götzenbilder, die überall in dem Gewölbe in Nischen aufgestellt waren und das ganze Treiben aufmerksam zu beobachten schienen.
«Der dort oben mit den vier Köpfen ist unser Schöpfergott Brahma, unser wichtigster Gott. Seine vier Köpfe symbolisieren die vier Epochen des Universums. Der dort auf der gegenüberliegenden Seite mit der Schlange um den Hals ist Shiva. Er ist für die Zerstörung des Universums zuständig. Diese erfolgt immer nach den vier Epochen, wir nennen sie Yugas. Was Shiva zerstört, wird von Brahma umgehend wiedererschaffen. Eine stetige Wiederkehr von Schöpfung und Zerstörung.»
Die Devadasi fuhr in ihren Ausführungen fort, während mich die betäubende Wirkung des Haschischs überkam und meine Sinne schärfte.
«Unser Kosmos, mein Dickerchen, besteht aus vierzehn Welten. Sieben davon liegen unter der Erde und sieben darüber. Für uns Hindus bedeuten diese Kosmologien einerseits wirkliche Planetenwelten, andererseits symbolisieren die verschiedenen Welten unterschiedliche Bewusstseinsebenen. Wenn du in Gedanken auf eine Reise zu diesen verschiedenartigen Welten aufbrichst, ist es immer auch eine Reise in das Innere deiner selbst.»
Mir schwindelte allmählich und ich musste die Augen schliessen, während die Devadasi munter fortfuhr, indem sie also sagte: «Natürlich ist Shiva kein böser Kerl. Er tut, was zu tun ist, damit sich das ewige Rad des Seins immer weiterdrehen kann. Der dort oben mit der goldenen Scheibe in der Hand – sie symbolisiert natürlich die Sonne – ist Vishnu. Er ist für das menschliche Schicksal verantwortlich. Dabei überlässt er uns Menschen die Selbstverantwortung. Es liegt an uns, diesem ewigen Zyklus zu entkommen, um nicht bis in alle Ewigkeit zwischen Vernichtung und Neuschöpfung gefangen zu bleiben.»
Mit geschlossenen Augen lauschte ich der lieblichen Stimme der Devadasi und versank gleichzeitig in den Tiefen meiner Gedankenlosigkeit. Auf dem Grunde angekommen, spürte ich, wie ich von etwas durchdrungen wurde, das zu beschreiben mir die Worte fehlen. Vielleicht war es Brahman, die Allsehle. Ich weiss es nicht. Auf jeden Fall erzählte mir die Devadasi, nachdem ich von meiner Entrücktheit zurückgekehrt war, dass Brahman überall ist, dass alles Sein von ihm durckwirkt ist, wie das Salz im Wasser, das sich auflöst und für uns unsichtbar, aber dennoch da ist. Und wie das Salz im Wasser sei das Seiende in meinem Körper enthalten, das Atman als Teil des Brahman. Und aus diesem äusserst Subtilen bestünde die ganze Welt.
«Das Göttliche ist überall, mein Dickerchen, du bist nicht nur dein physischer Körper, du bist das Göttliche selbst. Lass uns noch ein wenig Haschisch rauchen und du wirst spüren, was ich meine.»
Die Devadasi, deren Namen ich nie erfahren habe, winkte einen der Shudras zu sich. Sie hiess ihn, noch Haschisch und Gewürztee zu bringen. In dieser Nacht hatte ich das Gefühl, meinen Körper verlassen zu haben und wie ein Geistwesen durch eine der vierzehn Welten gespukt zu sein, verloren, suchend und nicht findend, weil nicht wissend, wonach suchend.
Verführen liess ich mich erst, nachdem ich diesen Ort der Leidenschaft schon mehrere Male frequentiert hatte und ich meine Lust nicht mehr länger zügeln konnte. Zudem bedrängte mich besagte Tempelhure zusehends und wollte mich unbedingt teilhaben lassen an diesem kollektiven sinnlichen Genuss. Ich konnte ihren Reizen nicht länger widerstehen und liess mich von ihr in der Kunst des Kamasutra unterweisen. Sie können mir glauben, mein lieber Guillaume, wie nervös ich war, als mich die Tempelhure in Gegenwart aller anderen entkleidete. Sie rieb meinen ungelenken Körper mit fein duftendem Liebesöl ein und unterzog mich einer wohltuenden Massage, wobei sie ihre Aufmerksamkeit vor allem auf meine erogenen Zonen richtete. Wir tranken immerfort scharfen Gewürztee und rauchten Haschisch. Während ich in meiner Verzückung aus den Versen des Verlangens zu rezitieren begann, kümmerte sich die Devadasi hingebungsvoll um meinen Schwanz, bis ich explodierte. Dieser erste Höhepunkt war aber lediglich der Auftakt zu einer erotischen Reise in neue Gefilde. Zu einer Reise ins Unbekannte, von der man nicht wieder zurückzukehren wünscht. Natürlich war ich bei meiner Leibesfülle und Ungestalt nicht imstande, mit den gelenkigen Hindus mitzuhalten, aber das tat der erotischen Kurzweil letztendlich keinen Abbruch, und ich kam zu jeder Zeit auf meine vollen Kosten, wusste doch die Devadasi mit diesen Umständen bestens umzugehen, indem sie mich hiess, mich entspannt auf den Rücken zu legen und mich auf das zu konzentrieren, was sie mit mir anzustellen beabsichtigte. Ich möchte Sie nicht länger mit meinen erotischen Eskapaden langweilen, mein lieber Guillaume, aber ich muss Ihnen sagen, dass die indischen Tempelhuren ihr Handwerk wirklich verstehen und einen der Erleuchtung wahrhaftig näherbringen.
Leider hielt dieser euphorische Zustand libidinöser Umnachtung bei mir nicht lange an, und das ganze erotische Brimborium begann mich zu langweilen, bis ich damit aufhörte, diesen Tempel der Lust aufzusuchen. Seit sich mein kleiner Mufti in den Norden verzogen hatte, waren beinahe vier Monate vergangen, und ich begann ihn zu vermissen. Damit die Zeit bis zu seiner Rückkehr schneller verstrich, nahm ich von einem portugiesischen Kaufmann eine grössere Übersetzungsarbeit an. Dieser war von den altindischen Weisheiten, von denen er viel gehört hatte, sie im Original aber nicht zu lesen imstande war, derart angetan, dass er die Upanishaden unbedingt ins Spanische oder Portugiesische transkribiert haben wollte. Nachdem ich dem Portugiesen erklärt hatte, dass die wortgetreue und sinngemässe Übersetzung der Upanishaden ein schwieriges und zeitaufwendiges Unterfangen wäre und in seinem Umfang eher einem Lebenswerk nahekäme, und dass sich mein Aufenthalt in Benares und in Indien schon bald seinem Ende zuneigte, ich aber gerne bereit wäre, für ihn ein paar ausgewählte Prosa-Upanishaden zu übersetzen, zeigte er sich höchst erfreut und hiess mich, mich unverzüglich an die Arbeit zu machen. Für ein wackeres Entgelt nahm ich diese Herausforderung an und war mit dem Resultat dann auch recht zufrieden, zumal mir bewusst war, dass keine Übersetzung dem Originalwortlaut in Sanskrit auch nur annähernd gerecht werden kann, spricht man diesen Schriften doch einen überirdischen Ursprung zu. Überirdisch oder nicht, ich setzte mich in meiner Kammer an den Tisch und schrieb Zeile um Zeile nieder. Ich vergass darob die Zeit und meinen Überdruss und liess meinen Geist von den altindischen Weisheiten umhüllen, spürte in meinem tiefsten Innern die Erhabenheit dieser Gedanken und ertappte mich bisweilen dabei, wie ich von einer spirituellen Zufriedenheit erfasst wurde, die vergleichbar war mit der sexuellen Befriedigung, die mir die Devadasi beschert hatte.
Mein kleiner Mufti kam drei Wochen später als angekündigt zurück nach Be­nares. Er hatte abgenommen, machte sonst aber einen gesunden Eindruck. Ein paar Tage später eröffnete er mir, dass er genug von Indien, vom Buddhismus und vom Hinduismus habe und gerne weiterziehen würde. Das kam mir sehr zupass, hatte doch auch ich genug gesehen und erfahren. Es war Zeit für eine Veränderung. Ich lieferte meine Übersetzungsarbeit ab und erkundigte mich bei dem portugiesischen Kaufmann, ob er Kontakte zu chinesischen Händlern pflegte und uns womöglich zu einer Überfahrt nach China verhelfen könne. Und er konnte. Er lud uns ein, ihn nach Kalkutta zu begleiten, woselbst er einen chinesischen Seidenhändler treffen werde. Zwei Wochen später fuhren wir den Heiligen Fluss hin­ab, bis wir im riesigen Gangesdelta dem Mündungsarm des Hugli nach Kalkutta folgten. Der Portugiese legte bei seinem chinesischen Handelspartner ein gutes Wort für uns ein, und schon wenige Tage später stiegen wir für ein entsprechendes Entgelt auf die Dschunke und traten die Überfahrt nach China an.
Wir hatten diesmal eine wirklich lange Reise vor uns, mussten wir doch an die Ostküste Chinas segeln, und ich nutzte abermals die Zeit, um die Sprache zu erlernen, welche am Ziel unserer Reise gesprochen wird. Ich und mein kleiner Mufti verbrachten die meiste Zeit an Deck. Stundenlang standen wir an der Reling und starrten hinaus aufs Meer, als ob wir nach etwas Ausschau hielten, das jeden Moment am Horizont auftauchen müsste. Ich musste an Marco Polo denken, wie er vor mehr als dreihundert Jahren über dasselbe Meer segelte und denselben Hafen ansteuerte. Bestimmt hatten auch er, sein Vater, sein Onkel und die beiden Mönche auf ihrer zweiten Reise nach China genauso an der Reling gestanden und aufs Wasser hinausgeschaut.
Auf Ersuchen Kublai Kahns, der die Gebrüder Polo an seinem Hof willkommen geheissen und sehr wohlwollend behandelt hatte, reisten diese nach ihrer ersten Chinareise zurück nach Italien und überbrachten Papst Gregor X. eine Grussbotschaft, in der der Grosskahn das kirchliche Oberhaupt bat, gesalbtes Öl aus der Grabeskirche in Jerusalem und einhundert gebildete Christen nach China zu entsenden. Der Grosskahn war derart begeistert vom katholischen Glauben, dass er mit dem Gedanken spielte, dass gewaltige Reich der Chinesen könnte geschlossen zum Christentum übertreten. Dazu kam es Gott sei Dank nicht, denn der Heilige Vater gab den Gebrüdern Polo lediglich einen Brief und zwei Mönche mit auf die neuerliche Reise nach China. Das war im Jahr 1271, mein lieber Guillaume. Die Diskussionen über den christlichen Glauben vor dem Enkel des grossen Tschingis Kahn fanden infolgedessen nicht statt  – und ebenso wenig die Verbreitung des Evangeliums unter den ungläubigen Chinesen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die beiden Mönche, die dem Grosskahn über die Geheimnisse ihrer Religion berichten sollten, geflohen waren, kaum hatte das Schiff im Hafen der Metropole Hang-tschou – dem chinesischen Venedig – angelegt. Die Gebrüder Polo kümmerten sich als Kaufleute natürlich ausschliesslich um Handelsabschlüsse, und die Christianisierung hatte aufgehört, bevor sie überhaupt angefangen hatte.
Auf der langen Überfahrt wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich bisher noch keinen Gedanken an meinen toten Vater und meine kranke Mutter verschwendet hatte. Die beiden geisterten nur noch als verschwommene Erinnerungen in meinem Kopf herum, an die sich zu klammern es sich nicht lohnte. Ich stand einmal mehr an der Reling und beobachtete abwechslungsweise den Horizont und die chinesischen Seemänner, wie sie unermüdlich und ohne zu murren die Dschunke mittels der zu Wasser gelassenen Beiboote hinter sich her zogen, weil schon seit mehreren Tagen eine grosse Windstille und eine unerträgliche Hitze herrschten. Der Wind war verschwunden, er hatte sich aus dem Staub gemacht, von einem Moment zum andern. Wahrscheinlich würde er an einem anderen Ort auf dem Meer gebraucht, wo sich ein Zyklon zusammenbraute, sagte mir einer der chinesischen Seeleute. Ich nickte ihm zu und konzentrierte mich wieder auf den Horizont.
Unbemerkt hatte sich mein kleiner Mufti zu mir an die Reling gesellt und gesagt, dass, wenn ich wirklich etwas an der Sichtgrenze erkennen wolle, ich mich in meiner Konzentration mehr anstrengen und meinen Blick ebenso nach innen richten müsse, bis sich mein Erinnerungshorizont mit der Grenzlinie zwischen dem sichtbaren Meer und dem Himmel decken und dadurch das manifestiert würde, was ich zu erkennen wünsche. Dann verschwand er wieder unter Deck und liess mich in meiner Kontemplation allein. Ich stierte immer auf denselben Punkt am Horizont und vermeinte nach einer gefühlten Ewigkeit plötzlich etwas zu erkennen, das sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit näherte und sich schliesslich als ein Schiff entpuppte, das unter vollen Segeln über das Wasser schnellte – und das bei völliger Windstille. Gebannt sah ich das Schiff näherkommen, bis es sein Tempo drosselte und längsseits auf etwa fünfzehn Meter herankam. Ich konnte meinen Blick von dem Schiff nicht abwenden, als ob mich irgendetwas daran hinderte. An der Reling des fremdartigen Wassergefährts standen fünf seltsam gewandete Männer, die zu mir hinüberschauten. Wir stierten einander an, bis einer der Männer das Wort ergriff, indem er also rief: «Hallo Bruder, ich bin Chloderich, der Sohn und Mörder des Sigibert von Köln. Wir segeln seit Jahren über die Weltmeere, um dich zu finden, Hugo.»
Ich traute meinen Ohren nicht und war nicht imstande etwas zu sagen.
«Ich bin Artabanos, oberster Minister und Mörder des persischen Grosskönigs Xerxes I.», schrie der Zweite mit kräftiger Stimme. «Ich bin zwar kein Vatermörder wie du, aber ich habe Artaxerxes, den jüngeren Sohn des Xerxes, angestiftet, seinen Bruder Dareios des Vatermordes anzuklagen und ihn hinzurichten, damit ich meine eigenen Interessen verfolgen und meine Machtstellung erweitern konnte.»
Ich wusste sehr wohl, wer Artabanos war, aber dass er einmal leibhaftig vor mir an der Reling eines Schiffes stehen würde, hätte ich nie erwartet.
Dann ergriff der Dritte das Wort, indem er also sagte: «Mein Name ist Sextus Rosicus aus Ameria. Ich wurde wegen Vatermordes und Unterschlagung angeklagt – und das zu Recht, denn ich habe meinen Vater getötet. Mein Verteidiger Cicero wurde seinem Namen als hervorragender Rhetoriker aber gerecht und erreichte meine Freisprechung.»
Der Vierte war zweifellos ein Inder. Er schrie in knappen Worten zu mir herüber: «Man nennt mich Ajatasattu, König des Reiches von Magadha, Sohn und Mörder des Königs Bimbisara.»
«Ich bin Ödipus», sagte der Nächste, «nachdem meinem Vater König Laios von Theben prophezeit worden war, dass er dereinst durch die Hand seines eigenen Sohnes getötet werden sollte, hatte er mich mit durchbohrten Füssen ausgesetzt. Trotzdem konnte er seinem Schicksal nicht entfliehen. Er starb wie prophezeit durch meine Hand. Nur wusste ich damals nicht wie du, dass der Mann, den ich erschlug, mein leibhaftiger Vater war.»
Unterdessen hatten sich noch mehr Männer an die Reling gestellt und einer nach dem andern stellte sich mir mit Namen vor und rühmte sich mit seinen Taten. Es handelte sich ausschliesslich um Vatermörder oder um solche, die andere zum Vatermord gezwungen oder jemanden dieser schändlichen Tat bezichtigt hatten. Während sich das Schiff dem unseren näherte, stellten sich unablässig mehr und mehr Männer an die Brüstung, bis es allmählich Schlagseite bekam. Wie festgewachsen stand ich da, unfähig mich zu bewegen und mich in irgendeiner Form zu artikulieren. Dann erblickte ich den Schiffsführer, der kein Geringerer war als mein eigener Vater. Er winkte mir lächelnd zu.
«Hallo, mein Sohn, endlich habe ich dich gefunden.»
Während er dies sprach, stellte er sich wie die andern ebenfalls an die Reling und hiess mich zu ihnen hinüberzusteigen. Die Planken der beiden Schiffe waren keine drei Meter mehr von einander entfernt. Mir wurde schlecht und ich wähnte mich in einem üblen Traum. Ich schloss die Augen und wollte mir die Ohren zuhalten, konnte meine Hände aber nicht von der Reling lösen.
«Was zögerst du noch, mein Sohn? Dein Platz ist hier auf meinem Schiff. Du wirst dich wohlfühlen unter Deinesgleichen. Wir werden eine Menge Zeit miteinander verbringen.»
Ich hatte wirklich keine Lust, das Vatermörderschiff zu besteigen, mein lieber Guillaume. Immer noch unfähig mich zu bewegen, strengte ich mich wenigstens an, meinem Vater und seiner üblen Mannschaft klarzumachen, dass sie verschwinden sollten.
«Verschwindet!», war dann auch das einzige Wort, das ich herausbekam.
«Verschwinden? So wie du, mein Sohn, einfach auf und davon. Wir müssen vor nichts weglaufen. Und damit auch du vor nichts mehr weglaufen musst, Hugo, holen wir dich jetzt an Bord. Dann können wir bis in alle Zeiten die sieben Weltmeere bereisen.»
Darauf wandte er sich an seine Männer und befahl ihnen, unser Schiff zu entern und mich an Bord zu holen. An das Letzte, woran ich mich erinnern kann, war, wie sich die Vatermörder auf mich stürzten. Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich muss wohl das Bewusstsein verloren haben.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich unter Deck der Dschunke. Ich lag darnieder, mein Körper brannte. Ich wurde von Fieberschüben und starkem Schüttelfrost geplagt. Mein kleiner Mufti sagte mir, während er meine glühende Stirn mit einem feuchten Lappen abtupfte, dass ich an der Reling plötzlich zusammengebrochen sei und mit angstverzerrtem Gesicht wie ein Fisch an Land gezappelt hätte. Mein lieber Guillaume, ich weiss nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat, aber nach meiner Genesung zog ich es vor, die meiste Zeit unter Deck zu verbringen. Wie ein Angsthase habe ich mich verkrochen. Und ich muss gestehen, dass ich insgeheim froh bin, dass das Meer hier, am Ende der Welt, verschwunden ist, sonst würde mich mein Vater mit seinem Schiff voller Wiedergängern womöglich bis hierher verfolgen. Vater und seine Mannschaft geistern bisweilen immer noch durch meine sieben Bewusstseinsebenen, scheinen aber die meiste Zeit auf dem tiefsten Grund meines Innern, den zu erreichen ich Gott sei Dank nicht imstande bin, festgehalten zu werden. Zweifelsohne waren das starke Fieber und das damit einhergehende Halluzinieren ausschlaggebend dafür, dass mein inneres Gleichgewicht gestört wurde. Aber wo anders als in China kann man besser wieder zu seiner Ausgeglichenheit finden, mein lieber Hugo? In keinem anderen Land wird das Leben so sehr von zwei sich entgegenwirkenden Prinzipien bestimmt wie in China.