Die kosmische Keimzelle


Auszug aus dem dreiundzwanzigsten Kapitel
Die kosmische Keimzelle


Früh am nächsten Morgen weckten die Nixe Alwis’ Gäste und hiessen sie aufzustehen. Sie folgten ihnen schlaftrunken und mit Schmerzen in den Gliedern, begleitet und schwach illuminiert von ein paar Lichtwesen, durch Alwis’ Höhlenlabyrinth an das steinige Ufer des unterirdischen Sees, wo dieser zufrieden und lächelnd auf einem niederen Gefels sass und hinaus auf das spiegelglatte Wasser schaute. Er begrüsste sie herzlich und fragte sie unverhohlen, warum sie keine Schuhe trügen. Dwalin erzählte ihm in knappen Worten von den drei wüsten Waldweibern, der Instabilität seines Wurmlochs und von der stinkenden Paste, mit der sie sich die Füsse einschmieren mussten, um unbeschadet durch das Wurmloch zu reisen.
«Ha, diese alten Kratzbürsten, immer zu einem kleinen Scherz bereit.» Alwis kletterte vom Stein herunter, stellte sich vor sie und betrachtete ihre nackten Füsse. «Für euch Zwerge habe ich bestimmt ein paar passende Schuhe, aber geeignetes Schuhwerk für unseren Freund Leopold? – So kleine Füsse, da wundere ich mich, dass ihr Menschen auf solch kleinem Fundament überhaupt stehen könnt.»
Nachdem sie bei einem der Nixe auch für meinen Grossonkel ein einigermassen passendes Paar Schuhe gefunden hatten, setzten sie sich erneut an die Tafel und frühstückten. Alle langten kräftig zu. Ein mühsamer Abstieg in die tiefsten Eingeweide der Erde stand bevor. Sie würden in Abgründe vordringen, wohin bis auf ihn, Alwis, die Götter – und zu ihrer aller Bedauern auch Loki – niemand bisher vorgedrungen sei. Es sei für alle Anwesenden eine besondere Ehre, an diesem Unternehmen teilzuhaben, das nicht weniger zum Ziel habe, als das Equilibrium zwischen den Welten wiederherzustellen und dessen Aufrechterhaltung zu gewährleisten. Die Kirchberger Erdleute, der allwissende Zwerg, mein Grossonkel Leopold und zwei Nixe schulterten ihre kleinen, mit Proviant gefüllten Rucksäcke und machten sich auf den Weg, ohne dass ihnen auch nur ein Lichtwesen gefolgt wäre. Das war auch nicht nötig, denn es kamen ihnen schon nach wenigen Minuten die ersten leuchtenden Geschöpfe entgegen, und es sollten, je tiefer sie hinabstiegen und dem Ort ihrer Abkunft sich näherten, immer mehr von ihnen werden, die sich ihren Weg durch einen der unzähligen Stollen nach oben suchten.
Während die Gruppe kleiner Leute durch herausgelöste Kalksteinadern in immer tiefere Regionen hinunterstieg, überkam meinen Grossonkel allmählich ein Gefühl der Verlorenheit. Der Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte, wurde, je tiefer hinab sie gelangten, umso mehr untermauert, gerade so, als würden die ungeheuren Felsmassen über ihm zum unerschütterlichen Fundament dieses Gefühls. In der Annahme, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, hatte mein Grossonkel Leopold dahingehend recht, dass die Tatsache, dass er sich mit einer Schar Zwerge und zwei Nixen auf dem Weg zu einem Wesen befand, das laut den Worten Alwis’ nicht nur für das Gleichgewicht zwischen den Welten sorge, sondern zusätzlich um die Produktion von exotischer Materie bemüht ist und überdies noch unentwegt Lichtwesen unterschiedlichster Formen gebiert, eher in den Bereich der Fantasie gehörte, als dass es der Wirklichkeit entsprach, einer Wirklichkeit, von der die Menschheit, dessen war sich Leopold gewiss, nicht sehr viel erträgt. Der Verdacht, dass er sich zurzeit in einer Fantasiewelt, also ausserhalb seiner vertrauten Realität befand, sollte sich schon bald bestätigen, dann nämlich, wenn Alwis ihn über seine Rolle in diesem für ihn, Leopold, phantas­magorischen Schauspiel aufklären und ihn mit der unangenehmen – oder angenehmen – Tatsache konfrontieren wird, dass das Gleichgewicht zwischen Fiktion und Realität gestört sei, dass die Fantasie zur Wirklichkeit und die Wirklichkeit zur Illusion geworden, dass Träume nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden seien. Mit anderen Worten, das Verschwinden des Buches, das ein Teil des Wesens sei, habe einen Prozess in Gang gebracht, der langsam aber sicher alles durcheinander bringen und darin gipfeln würde, dass sowohl die Menschen als auch die Unterirdischen, ja sogar die Götter sich unfreiwillig in den verschiedenen Welten bewegen würden und allmählich den Verstand verlören, vorausgesetzt, sie verfügten über einen solchen. Davon wusste zu diesem Zeitpunk mein Grossonkel noch nichts, er war aber drauf und dran, sich allmählich den Kopf darüber zu zerbrechen.
«Das Buch, das Loki aus unserer Zentralbibliothek gestohlen hat, ist eigentlich gar kein Buch», sprach Alwis, «es sieht nur aus wie ein Buch. Es könnte auch Form und Aussehen jedes beliebigen Dings haben, aber wir haben uns für die Formung eines unscheinbaren Buches entschieden, weil wir Unterirdischen eine besondere Affinität zu Büchern haben. Es ist Teil des Wesens, das in der vollkommenen Stille ferner Grabestiefen ruht und darauf wartet, seiner eigentlichen Bestimmung dereinst nachzukommen, wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit. Und dieser Bestimmung, welche darin besteht, in seiner Vollständigkeit ohne den geringsten Makel den Ereignishorizont im zentralen kosmischen Mahlstrom unserer Galaxis zu überschreiten, kann es nur nachkommen als Ganzes, als Unzerteiltes, als in sich Abgeschlossenes. Und diese Voraussetzung ist mit dem Abhandenkommen des Buches nicht mehr gewährleistet.»
Während Alwis dies sprach, hob er mahnend den rechten Zeigefinger in die Höhe, blieb stehen und spitzte seine grossen Ohren. Seltsamerweise drängten die Lichtwesen an die Felswände, wo sie verharrten, als wollten sie etwas aus dem Weg gehen.
«Es ist besser, wenn wir hier einen kurzen Halt machen und uns hinter jenem Felsen in Deckung begeben. Hier wird bald einiges los sein.»
Alwis führte seine Freunde nach links Richtung angepeilten Felsen, wo sie ihre Rucksäcke ablegten und sich hinkauerten. Zusammengekrümmt sassen sie schweigend hinter dem schützenden Gestein und gewahrten, wie die Stille dieser Grabestiefen in ihrer Vollkommenheit gestört wurde. Das kaum hörbare Rauschen wurde zusehends lauter und ging schliesslich über in ein unheimliches Stöhnen, hervorgebracht von einer sich nähernden Horde verdammter Seelen. Dann schossen die Fledermäuse aus der Finsternis hervor wie eine Albtraumhorde heran­springender Teufel.
«Mein Gott, sind das viele», sagte Dwalin und kam aus dem Staunen kaum heraus.
«In der Tat, mein Freund, es müssen Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen sein», erwiderte Alwis, während er lächelnd das Geschehen beobachtete. Pfeilschnell stieben die flinken Fledertiere vorbei, und nach wenigen Minuten schon war nichts mehr zu hören. So schnell wie sie gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Leopold, die Wichtel und die beiden Nixe krochen hinter dem Felsen hervor und setzten ihren Abstieg fort, während sich die Lichtwesen anschickten, ihren Aufstieg wieder aufzunehmen.
«Woher kam diese Höllenbrut?», fragte Nordri den allwissenden Alwis.
«Höllenbrut? Das war keine Höllenbrut. Das waren Fledermäuse, nichts als Fledermäuse, die nach oben fliegen.» Alwis schüttelte kaum merklich den Kopf und sprach weiter, indem er also sagte: «Die wahre Höllenbrut sind die Unholde, die zur Brut Lokis geworden sind. Wie bei euch Menschen schiebt man dem Teufel alles Böse unter, vorausgesetzt, man verfügt in seiner Religion über einen solchen. Deswegen ist Loki der Vater aller Trolle und besonders jener Ungeheuer, die im letzten grossen Kampf den Göttern den Tod bringen werden. Und jene Zeit, da Loki von seinen Banden loskommen soll, ist mit dem Untergang der Götter und der Welt, wie wir sie kennen, gleichbedeutend. Und diese Zeit ist gekommen. Loki hat sich befreit, obschon er erst am Ende dieser Welt entkommen sollte. Lokis eigentliche teuflische Brut sind seine drei Kinder, die er mit der Riesin Angrboda gezeugt hat. Es sind dies der Fenriswolf, die erdumgürtende Seeschlange Jormungand und Hel, die Herrscherin der Unterwelt. Und da sich die Götter vor den Kindern Lokis fürchteten und durch Orakel erfuhren, dass ihnen durch diese Kinder grosses Unheil bevorstünde, liess Odin sie kurzerhand aus Jotunheim zu sich holen, und als sie angelangt waren, warf er die Schlange in das tiefste Meer, wo sie, dem Leviathan gleich, zu ungeheurer Grösse heranwuchs und sich um alle Länder schlingt. Die Hel schleuderte er von Asgard nach Niflheim hinab und den Fenriswolf liess er schliesslich, nachdem ihnen alle Weissagungen gemeldet hatten, dass er ihnen dereinst grosses Unheil bringen werde, wie schon Loki in Ketten legen, Ketten, die wiederum von uns Zwergen gefertigt wurden, und zwar aus dem Speichel des Vogels, den Wurzeln des Berges, aus dem Geräusch der Katze, aus den Sehnen des Bären, dem Hauch des Fisches und dem Barte des Weibes. Wir nennen die Fessel Gleipnir, sie ist glatt und weich wie ein seidenes Band und hält sämtlichen Versuchen des Wolfes, die Fessel zu brechen, stand.»
An dieser Stelle erlaubte sich mein Grossonkel Leopold, den weisen Zwerg zu unterbrechen, indem er ihm folgende Fragen stellte: «Gehe ich richtig in der Annahme, dass, wenn Loki und Fenrir freikommen, der Weltuntergang nicht mehr zu verhindern ist? Und dass die Wiederbeschaffung des Buchs keinen Einfluss darauf haben wird? Der Untergang findet statt, so oder so. Dann frage ich mich, warum wir uns überhaupt die Mühe machen, das Buch zu finden.»
«Gute Frage, mein Freund», erwiderte Alwis. «Wie ich bereits erwähnt habe, weiss Loki Bescheid über das Wesen. Ihm ist bewusst, dass es für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Wirklichkeit und Fiktion sorgt. Und ihm ist natürlich auch bewusst, dass seine Existenz und damit seine Welt in den Bereich der Mythologie gehören, dass er also nur dort, in den Sagen- und Göttergeschichten, seine Daseinsberechtigung hat. Was übrigens in gewissem Sinne auch auf uns Unterirdische zutrifft. Auch wir gehören in den Bereich der Mythen und Legenden. Mit dem Unterschied, dass wir Zwerge uns im Gegensatz zu Loki und den Göttern schon immer sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Fiktion bewegen können. Und dass du jetzt hier bei uns Unterirdischen weilst, bedeutet nichts anderes, als dass der Prozess eingeleitet wurde und die Welten allmählich durcheinander geraten. Leopold, du bist der Erste der Oberirdischen, der die Wirklichkeit verlassen und in die Welt der Träume gewechselt hat. Und das ist auch der Grund, weshalb wir dich zu uns geholt haben, weil du der Erste bist.»
«Woher weisst du, dass ich der Erste bin, der zwischen den Welten wandelt?», fragte mein Grossonkel.
«Das Wesen hat es mir gesagt. Und ich habe es den Kirchberger Erdleuten gesagt, welche ihrerseits Kontakt zu dir knüpften. Überhaupt habe ich meine angebliche Allwissenheit einzig und allein dem Wesen zu verdanken. Vor ewigen Zeiten, als ich mich in die Tiefen der Erde zurückzog, um meine Schmach zu ertragen, habe ich das Wesen gefunden. Ich war überwältigt, nicht nur von seinem Anblick, auch von seiner undefinierbaren Beschaffenheit und von der Macht, die ihm innewohnt. Es ist unbeschreiblich, aber das werdet ihr bald selber sehen. Es begann sofort mit mir zu kommunizieren, indem es in meinen Kopf eindrang. Auf diese Weise hat es mir gezeigt, woher es kommt und wohin es dereinst gehen wird. Ausserdem hat es uns Unterirdischen nicht nur das Buch, das von Loki gestohlen wurde, zur Verfügung gestellt, sondern mir persönlich ein zweites, identisches Buch geschenkt, das ich in meinem Unterschlupf aufbewahre und über das ich in ständigem Kontakt mit ihm stehe. Natürlich habe ich mein Buch bei diesem Abenteuer dabei. Wir werden es bestimmt noch brauchen.»
«Gehört das Wesen in die Wirklichkeit oder ist es reine Fiktion?» Meinem Gross­onkel Leopold begann es anscheinend Spass zu machen, den hässlichen Gnom mit Fragen zu löchern.
«Weder noch», antwortete Alwis. «Es steht über allen uns bekannten Entitäten. Es ist sozusagen die Quintessenz jeglichen Seins, das dem Leben ermöglicht, sich harmonisch in der Raum-Zeit zu entfalten. Das Wesen ist das höchste Bewusstsein oder die höchste Intelligenz, aus der das Leben erwächst.»
«Ist es Gott?»
«Gott?!» Alwis hielt abrupt an, wandte sich seinen Gefährten zu und begann heftig mit seinen langen Armen zu gestikulieren. «Gott! Götter! Der Teufel und seine Höllenbrut! Ach das sind doch alles nur Götzen, die von schwachen und irregeführten Leuten verehrt werden. Das Wesen, von dem wir sprechen, ist weit mehr als euer Gott oder unsere Götter. Es existiert schon immer. Es empfindet keine Zeit. Als unser Kosmos aus dem Nichts entstanden ist, war er leer. Und es hätte sich niemals Materie bilden können, wenn nicht das Wesen von der empyreischen Seite eines der unzähligen kosmischen Mahlströme, von denen es in allen Universen nur so wimmelt, auf die andere Seite in unser noch jungfräuliches Universum gelangt wäre. Sein Auftreten erst verursachte geringe Quantenfluktuationen, das sind winzige Schwankungen in den Energiefeldern, welche im Zuge der Kosmischen Inflation sich derart verstärkten, dass sie sich als Dichteunterschiede im glühenden Urgas abzeichneten und schliesslich als gravitative Keimzelle der Galaxienbildung dienten. Mein lieber Leopold, meine teuren Kameraden, ohne das Wesen gäbe es heute weder Galaxien, noch Sterne und Menschen. Unser Universum wäre leer geblieben wie so viele andere Universen. Aber dank seinem Erscheinen in der kosmischen Ursuppe wurde die grossräumige Verteilung der Materie im Universum erst ermöglicht. Unser Wesen ist nichts anderes als der kosmische Samen aus ungestalten Reichen der Unendlichkeit fernab der Natur, wie wir sie kennen.»
Alwis schaute mit einem verklärten Blick hinab in die Tiefen der Höhle, die sie durchwanderten, und seufzte voller Befriedigung, als ob er der ultimativen Erkenntnis teilhaftig geworden wäre. Dann setzte er den Abstieg fort und seine Begleiter folgten ihm auf dem Fusse, sprachlos und beeindruckt von dem, was sie gerade gehört hatten.
Die Neigung des Stollens wurde allmählich steiler, und immer öfter kamen sie durch Kavernen natürlichen Ursprungs und unterschiedlicher Grösse, die vom Licht der heraufsteigenden Leuchtwesen, deren Anzahl stetig anwuchs, auf fremdartige, aber keineswegs unangenehme Art illuminiert wurden. Nachdem ihnen Alwis versichert hatte, dass sie den grössten Teil des Abstiegs hinter sich hätten, machte sich bei den Wichteln und bei Leopold eine Anspannung breit, die von der damit einhergehenden Nervosität noch überlagert wurde und ihr Schritttempo deutlich verschärfen liess, sodass sich Alwis gezwungen sah, seine aufgewühlten Kameraden aufzufordern, sich nicht zu benehmen wie eine Schar ungeduldiger Kinder, die es nicht erwarten konnten, dort anzukommen, wo die versprochene Belohnung auf sie wartete.
«Warum ist das Wesen trotz seiner Kraft, seiner Macht und Überlegenheit derart verletzlich, dass, wenn auch nur ein kleiner Teil von ihm abhanden kommt, es seinen Bestimmungen nicht mehr gerecht werden kann?»
Mein Grossonkel Leopold nahm seine Fragerei wieder auf, obwohl er vor allem damit beschäftigt war, das Tempo zu halten und keine Fehltritte auf dem steinigen Untergrund zu machen.
«Es funktioniert nur in seiner Vollständigkeit. Nur schon der kleinste Mangel an seiner Ganzheit schränkt seine Fähigkeiten derart ein, dass es seiner Bestimmung nicht mehr nachkommen kann. Solange das verschwundene Buch unter dem Himalaja an seinem angestammten Platz lag, hatte das Wesen eine direkte Verbindung zu seinem ausgelagerten Bruchstück, und diese Verbindung wurde gekappt. Ihr müsst nämlich wissen, dass sowohl mein selbst gewählter Zufluchtsort, als auch das Wesen selbst sich ebenfalls unter dem Himalaja befinden, nur ungleich tiefer und verborgener. Das Wesen konnte so ständig in direktem Kontakt mit den beiden Büchern stehen, es war auf irgendeine Weise mit ihnen verbunden, auf welche, das entzieht sich meiner Kenntnis. Diese Verbindung ist unterbrochen worden, zumindest zum Buch, das sich in unserer Hauptbibliothek befand. Und dieser Teil seiner selbst fehlt ihm jetzt, es ist kein Ganzes mehr. Nur seine hundertprozentige makellose Geschlossenheit garantiert eine fehlerfreie Funktionstüchtigkeit, ansonsten gerät alles allmählich durcheinander.»
«Kaum zu glauben», sagte Leopold, «ich kann mir nicht vorstellen, dass, wenn die beiden Bücher fortgetragen werden, es dem Wesen schadet. Kann es sein, dass ihr euch irrt? Dass euch das Wesen angelogen hat? Euch aus irgendwelchen Gründen einen Bären aufgebunden hat?»
«Ich darf doch bitten, mein lieber Leopold. So was würde das Wesen niemals tun.»
Mein Grossonkel Leopold fragte sich an dieser Stelle, ob er das glauben sollte, was ihm die Kirchbeger Erdleute und Alwis erzählten. Es dünkte ihn doch alles etwas sehr weit hergeholt. Als ob man eine kosmische Keimzelle, die ewig ist, in irgendeiner Form beeinträchtigen oder gar verletzen kann. Unsinn! Zwei Bücher, die gar keine Bücher sind – Unsinn. Alles Hirngespinnste. Humbug. Nicht wahr. – Andererseits konnte er sich kaum vorstellen, sich in einem Traum zu befinden, zu wirklich kam ihm alles vor. Zugegeben, bisweilen überkam ihn noch das untrügliche Gefühl, dass er seinen Verletzungen erlegen war und sich im Jenseits bewegte, oder wenigstens in einem Zwischenreich, oder in einer durch die ihm zugeführten Verletzungen verursachten tiefen Bewusstlosigkeit, in der er katatonisch dahinvegetierte und seine noch funktionierenden Hirnregionen ihm lediglich vorgaukelten, sich auf einer äusserst dringlichen Mission zu befinden. Er wusste es beim besten Willen nicht.
Immer tiefer stiegen die Unterirdischen und mein Grossonkel hinab ins Innere von Mutter Erde. Die herausgelösten Kalksteinadern wanden sich kurvenreich hin­ab. Von allen Seiten führten Stollen und kleinere Verbindungsgänge zueinander und man wähnte sich in einem riesigen unterirdischen Bronchial- oder Kapillarsystem. Wie bunte Blutkörperchen stiegen die immer zahlreicher werdenden Leuchtwesen bedächtig empor und tünchten das gewaltige Höhlenlabyrinth in polychromes Licht.
«Was ist mit den Lichtwesen? Sind sie nicht auch Teil des Wesen?» Leopold stützte sich an einem Felsvorsprung, während er mit seiner linken Hand auf die leuchtenden Objekte zeigte. «Beeinträchtigen diese unzähligen Leuchtkörper, die angeblich vom Wesen selbst hervorgebracht werden, dessen Bestimmung nicht?»
«Nein», antwortete Alwis, «wie alle Organismen scheidet auch das Wesen Abfallstoffe aus. Durch irgendeinen uns unbekannten chemischen oder physikalischen Prozess entledigt es sich der Lichtwesen, welche anschliessend auf ewige Zeiten ihrer Bestimmung nachkommen, die wohl darin besteht zu leuchten, Licht ins Dunkel zu bringen.»
«Was hält dieses Ding am Leben?» Leopolds Fragen wurden immer dreister.
«Das weiss ich nicht. Ich vermute, dass es sich von Zeit ernährt. Es erlebt Zeit nicht. Es existiert wie gesagt schon immer, es war schon da, bevor unser bekanntes Universum aus dem Nichts entstanden ist, nämlich in einem anderen Kosmos. Es reist von Universum zu Universum, indem es immer und immer wieder von gewaltigen Mahlströmen verschlungen wird, den Ereignishorizont auf wunderliche Art und Weise unbeschadet überschreitet und im neuen Kosmos dafür sorgt, dass Materie gebildet wird. Es mag befremdlich klingen, in diesem Zusammenhang von einem Wesen zu sprechen, das Zeit nicht empfindet, gerade die Zeit, ohne die es bekanntlich keinen Raum gäbe, und somit auch nichts anderes. Das eine setzt das andere voraus.»
An dieser Stelle hörte Alwis auf zu sprechen und führte die kleine Gruppe in eine riesige Kaverne, ähnlich einer Herzkammer. Auf dem Grund hatten sich viele Pfützen von beachtlicher Grösse gebildet. Und von dieser Höhle gelangten sie schliesslich durch einen gewaltigen Stollen in eine noch viel grössere Kaverne, und vor ihnen erstreckte sich eine Unendlichkeit unterirdischen Leuchtens. Sie mussten ganz in der Nähe des Wesen sein, das spürte ein jeder von ihnen.
«Ihr müsst noch wissen, meine Freunde, dass sich das Wesen seinen Platz nicht ausgesucht hat. Es hat sich nicht aus eigenem Antrieb, wie es beinahe den Anschein macht, in diese Grabestiefen zurückgezogen, so wie ich das getan habe. Vielmehr hat sich unser Planet vor Äonen um das Wesen herum gebildet, es wurde in einem langwierigen physikalischen Prozess, ausgelöst durch Krümmungen der Raumzeit, nach Äonen ins Innere der Erde eingebettet. Dass sich gerade unser Planet um das Wesen herum herausgebildet hat, ist reiner Zufall. Und wenn unser Heimatplanet dereinst von der Sonne vernichtet wird, wird das Wesen überleben und irgendwo in der Milchstrasse von neuer Materie umhüllt werden, wo es bleibt, bis auch dieser Planet oder Stern zerstört oder gestorben sein wird. So wird es die für uns gewaltigen Zeitspannen überdauern, ohne die Zeit wahrzunehmen, bis unsere Galaxis in fernster Zukunft vom supermassiven schwarzen Loch, das als alles verschlingender Mahlstrom in deren Zentrum wütet, verzehrt worden sein wird. Auf der anderen Seite wird ein neues Universum geboren, und unser Wesen wird dafür sorgen, dass es nicht leer bleibt.»
«Weiss Loki, dass das Wesen eine kosmische Keimzelle ist?» Diesmal richtete Bömbur ein paar Fragen an Alwis. «Oder hat er sich des Buches nur aus dem einen Grund bemächtigt, um zwischen den Welten wandeln zu können und um alles gehörig durcheinander zu bringen? Hat er nicht schon genug damit zu tun, mit seiner Höllenbrut den Sturz der Asen und das Ende seiner mythologischen Welt herbeizuführen? Ist er sich überhaupt bewusst, was für Konsequenzen sein Handeln nach sich zieht?»
«Das weiss ich beim besten Willen nicht. Aber genug der Fragen. Ich möchte jetzt, dass geschwiegen wird, wenn wir dem Wesen gegenübertreten.»
Sie schritten durch einen letzten Stollen, der sich trichterähnlich vergrösserte und sein Ende in einer neuerlichen gigantischen Kaverne fand, die erfüllt war vom unterirdischen Leuchten, das vom Wesen ausging, welches sowohl wie ein blubbernder See vor ihnen am Grunde der Höhle lag, als auch die seitlich und über ihnen gelegenen Hohlräume und Stollen beanspruchte. Seltsamerweise füllte es nicht die ganze Kaverne aus, sondern schien sich vielmehr um diese unterirdische Kathedrale herum gebettet zu haben. Das Protoplasma aus strukturlosen Reichen der Ewigkeit war auf einmal allgegenwärtig, von überall her leuchtete es in unwirklichen Farben und tünchte diese Grabestiefen in ein Licht, das unmöglich zu beschreiben ist. Unablässig lösten sich Lichtobjekte von dem Teil des Wesen, der den Grund der Kaverne wie ein stehendes Gewässer ausfüllte, und stiegen wie Quallen aus den Untiefen des Meeres anmutig und bedächtig nach oben. Alwis und seine Begleiter standen wie angewurzelt am Ende des erwähnten Stollens und starrten ehrfürchtig auf das Wesen und das Geschehen, das von ihm ausging. Leo­polds Sinne waren einmal mehr überfordert und er fragte sich in diesem Moment, ob dies protoplasmatische Ding als Quintessenz wirklich alles andere in sich birgt, um einem leeren Kosmos Leben einzuhauchen. Ist die Präsenz des Wesen wirklich absolut und seine Kraft allumfassend?
«Das ist ausserordentlich beeindruckend und sagenhaft schön», brach Bömbur das Schweigen und konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
«In der Tat, in der Tat, das ist es», bestätigte Alwis.
Allmählich erwachten sie aus ihrer Starrheit und näherten sich langsam dem Wesen. Es musste gigantisch sein. Die Besucher konnten sich nicht vorstellen, wie weit in die Felsen hinein es sich erstreckte. Es gab keinen Laut von sich. Es herrschte eine Stille, wie sie nur in solchen Grabestiefen herrschen konnte. Es war weder flüssig, gasförmig noch von fester Struktur. Es war anders, anders als alles, was Alwis’ Begleiter bis anhin zu Gesicht und anzufühlen bekommen hatten. Ja, man konnte es berühren. Man konnte hineingreifen, ohne Schaden zu nehmen. Und es fühlte sich eigenartig an. Unbeschreiblich. Es überkam einen irgendwie das Gefühl der Vertrautheit, der Geborgenheit, wenn man es berührte. Als würde man in eigenen, wohltuenden Erinnerungen ertrinken. Leopold vermeinte sogar zu verspüren, wie eine unsichtbare Kraft durch seinen Körper fuhr, seinen Körper, der schon lange zu einem Friedhof begrabener Gefühle geworden war, und eine jede seiner Zellen öffnete und mit Energie anreicherte, sodass er sich fühlte wie neugeboren.
«Spürt ihr es? Spürt ihr, dass es alles von uns weiss? Es weiss über jeden von uns Bescheid. Unser ganzes Leben ist ein offenes Buch für das Wesen.»
Beinahe im Flüsterton sprach Alwis diese Worte zu seinen Kameraden, während sie alle, am Boden kauernd, ihre Hände in das undefinierbare Etwas hielten, als ob sie sie waschen wollten. Und gereinigt fühlten sie sich auch, nachdem sie ihre Hände wieder aus dem Wesen rausgenommen hatten.
«Na, meine Freunde, wie fühlt ihr euch?»
Alwis hatte anscheinend die Rolle gewechselt und bedrängte seine Begleiter seinerseits mit Fragen. Doch seine Freunde waren zu überwältigt, um antworten zu können, sie nickten lediglich mit ihren Köpfen und lächelten wie Buddhisten, die soeben aus tiefster Kontemplation erwacht waren.
«Während ich mich mit dem Wesen unterhalte, um herauszufinden, wo das Buch hingebracht wurde, könnt ihr euch ausruhen und eine Kleinigkeit zu euch nehmen. Die beiden Nixe haben ein kleines Höhlenpicknick vorbereitet.» Alwis richtete sich auf, klopfte seine Beinkleider ab und begab sich alsogleich zu einer Felsöffnung, die ganz in der Nähe lag. Der dahinter verborgene Stollen oder die sich befindliche Kaverne schien vom Protoplasma des Wesens vollständig ausgefüllt zu sein. Ein paar Sekunden blieb er davor stehen und trat plötzlich mit forschen Schritten in das Wesen hinein.
«Er scheint tatsächlich einen besonderen Draht zu diesem Ding zu haben», bemerkte Bömbur mit vollem Mund.
«Er kommt immer wieder hierher und unterhält sich mit dem Ding», sagte einer der Nixe und fügte nonchalant hinzu, «er ist von dieser seltsamen Kreatur auserwählt worden, wozu auch immer.»
Die Kirchberger Erdleute, mein Grossonkel Leopold und die beiden Nixe taten sich am Mitgebrachten gütlich, machten es sich daraufhin so bequem wie möglich und betrachteten das unterirdische Lichtspektakel wie Kinder, die zum ersten Mal einem Feuerwerk beiwohnen. Diese Illumination hatte etwas Erhabenes an sich, so wie das Wesen selbst die stärkste Energie, die Essenz des Kosmos in sich birgt, und diese Erhabenheit verfehlte ihre Wirkung nicht auf die ruhenden Betrachter, die einer nach dem andern die Augen schlossen und in tiefster Zufriedenheit entschlummerten.
«So muss sich der Moment des Todes anfühlen», dachte Leopold, bevor auch er einnickte.
Als Alwis von seiner Unterredung zurückkehrte, fand er seine Kameraden ein Schläfchen machend am Rande einer kraterförmigen Einbuchtung, nicht weit weg von der Stelle, wo er sie geheissen hatte, mit ihren Händen das Wesen zu berühren. Er setzte sich auf einen Stein und ass etwas von den Resten, die die anderen übrig gelassen hatten. Alle ausser ihm lagen sie lächelnd auf dem steinigen Grund, nicht ahnend, dass sie bald eine Reise in eine andere Dimension antreten würden. Eine Reise an einen Ort, dessen räumliche und zeitliche Erfassbarkeit ihre Sinne ein weiteres Mal auf die Probe stellen wird. An einen Ort in einer Welt, die sich erst jetzt manifestierte, nachdem das Abhandenkommen des Buches den bereits erwähnten Prozess initiiert hatte. Ein Ort, der mit den Geschichten meines Gross­onkels Leopold zu tun hat, mit den Geschichten, die er nicht zu Ende schrieb.
«Wie bitte, das Buch soll sich in einer meiner Geschichten befinden?» Leopold konnte nicht glauben, was Alwis gerade gesagt hatte.
«Nun ja, zumindest soll es mit deinen Geschichten zu tun haben. Deswegen bist du ja auch hier bei uns, den Unterirdischen.» Alwis lächelte seine ungläubig dreinschauenden Kameraden an und begann damit, seinen Rucksack wieder einzupacken und zuzuschnüren. «Packt eure Sachen zusammen. Es macht keinen Sinn, noch länger hier zu hocken und Zeit zu vergeuden.»
«Als ob man bei euch Unterirdischen Zeit vergeuden kann», bemerkte mein Grossonkel trotzköpfig.
«Es wird noch besser», entgegnete Alwis, «dort, wo wir hinreisen, soll die Zeit, ihrer metaphysischen Natur beraubt, stillstehen. Zeit soll an jenem Ort keine Rolle spielen. Genauso wie sie für das Wesen ohne Bedeutung ist, abgesehen davon, dass es sich wahrscheinlich ernährt von Zeit. Wie dem auch sei, das werden wir alles bald herausfinden.»
«Und wie kommen wir dorthin? Bestimmt nicht zu Fuss, oder?»
Bömburs Frage entlockte Alwis lediglich ein Lächeln.
«Nein, bestimmt nicht zu Fuss. Wir reisen so, wie wir es gewohnt sind, durch ein Wurmloch, ein dimensionsverbindendes Wurmloch.»
«Aber die Wurmlöcher sind doch instabil», insistierte Nordri.
«Nicht dieses Wurmloch. Dieses Wurmloch wird eigens für unsere Reise konstruiert, und zwar vom Wesen selbst, spontan aus sich selbst heraus. Es braucht weder exotische Materie noch Tachyonen.»
Die Kirchberger Erdleute schauten sich achselzuckend an und folgten Alwis, der schon einige Schritte vorausgegangen war. Nach wenigen Hundert Metern bogen sie in einen freien Stollen und folgten diesem bis zum Ende. Etliche kleine Gänge führten von vorne, von oben und von den Seiten her in den in einer Sackgasse endenden Stollen. Das Gefels war regelrecht perforiert mit Löchern, Löchern, die zu klein waren, um hineinzuschlüpfen.
«Na denn», sagte Alwis, «stellt euch in die Mitte und bewegt euch nicht, auch dann nicht, wenn das Protoplasma hereinströmt. Es ist ungewohnt, aber ungefährlich.»
Die kleine Gruppe Leute stellte sich dicht gedrängt in der Mitte auf und wartete. Zunächst fiel plötzlich Licht aus den Löchern auf sie herab, Licht nicht von dieser Welt, um anzukündigen, dass das Protoplasma ganz in der Nähe war. Dann strömte es auf einmal aus sämtlichen Öffnungen herein, sammelte sich am Grund und fing an, sich heftig im Gegenuhrzeigersinn zu drehen und sich gleichzeitig an den glatten Felswänden emporzuarbeiten. Kurze Zeit später vermeinten sie, sich im Auge eines kleinen Tornados zu befinden. Das Protoplasma rotierte immer schneller, irgendwelche Entladungen fanden statt und grelle Lichtblitze liessen die Wichtel, die beiden Nixe und meinen Grossonkel die Augen schliessen. Das ganze Prozedere lief erstaunlicherweise völlig geräuschlos ab. Und dann waren sie auf einmal weg. Fortgetragen an einen Ort, den es eigentlich nicht geben dürfte.