Der letzte Seiltanz


Auszug aus dem elften Kapitel
Der letzte Seiltanz
«Ich kann Sie nicht begleiten», sagte Thalmann, als wir ihn im Hotel abholen wollten.
Es war kurz nach dreizehn Uhr. Loki und ich hatten am Vormittag die Gelegenheit erneut genutzt, um mit dem Mietwagen Dresden zu erkunden.
Gemächlich gondelten wir durch die fünf Stadtbezirke. In Wachwitz machten wir Halt und tranken ein Gläschen vom hiesigen Weisswein. Dazu bestellten wir Dresdener Wurtswaren und heimischen Käse. Während uns Thalmann die Gründe für den plötzlichen Aufbruch nannte, verstaute er sein Gepäck im Kofferraum. Offenbar musste er sofort zurück in die Schweiz, weil neue Erkenntnisse im Fall Salzstein vorlagen.
«Der Hund von den Fessisleuten hat eine Höhle entdeckt, in der womöglich Salzstein gefangengehalten wurde», sagte der Kommissar und warf Briannas Koffer in den Fond des Wagens. «Die Höhle sei nicht natürlichen Ursprungs und recht komfortabel eingerichtet.»
«Das sind gute Neuigkeiten», sagte Loki und reichte Thalmann den Autoschlüssel.
«Ich hoffe, Sie kommen zurecht hier. Und sobald Sie zurück in der Schweiz sind, erwarte ich einen ausführlichen Bericht», scherzte er.
«Natürlich», antwortete Loki.
Brianna gefiel der überstürzte Aufbruch gar nicht. Sie zog eine Schnute und wedelte mit den Tickets für die Semperoper vor Thalmanns Gesicht herum.
«Tut mir Leid, Süsse. Die Semperoper muss warten.»
Brianna sagte nichts und reichte Loki die Tickets. Dann setzte sie sich schweigend in den Wagen.
«Schade, dass sie mitfährt», sagte ich.
«Ja. Schade», sagte Loki, «eine interessante Frau. – Nun denn, lass uns ein Taxi suchen.»

Als wir bei Sinsheimers ankamen, begann es zu regnen. Die beiden alten Leute erwarteten uns bereits. Sie fragten nach Thalmann, mit dessen Erscheinen sie fest gerechnet hatten. Dass er wegen neuer Erkenntnisse im Fall Salzstein sofort zurück in die Schweiz musste, bedauerten Sinsheimers mehr, als dass sie sich darüber freuten. Im Gegensatz zu gestern war Sinsheimer wie aus dem Ei gepellt. Man hätte meinen können, er habe sich für eine gesellschaftliche Verpflichtung zurechtgemacht.
«Mein Mann will ordentlich gekleidet sein, wenn er diese Welt verlässt», meinte Frau Sinsheimer, als sie uns reinbat.
Darauf wussten wir nichts zu erwidern und lächelten verlegen. Frau Sinsheimer hatte schon Bier, Häppchen und Aschenbecher bereit gestellt. Wir nahmen im Wohnzimmer platz und führten ein wenig Smalltalk, bevor Pinkas Sinsheimer uns erzählte, wie er sein Auge verlor. Während der Alte berichtete, dachte ich unentwegt an das Gespräch mit Abdul, das ich in meinem luziden Traum in der vergangenen Nacht geführt hatte. Die Augen, von denen eines Salzstein und eines Sinsheimer getragen hatten, gehörten nicht in die Alltagswelt. Ob sich dessen Sinsheimer bewusst war? Er machte einen munteren Eindruck in der frisch gebügelten Kleidung. Auch seine Frau war auffallend adrett angezogen.
«Die Nazis haben mir das Auge rausgeholt», sagte der Alte und lächelte uns an, als wäre eine solche Tat das Selbstverständlichste auf der Welt. «Die haben das sauber hingekriegt.»
Sinsheimer nahm die Augenbinde ab und setzte sich mühelos das Auge von Bes ein. Gleichzeitig legte sich wieder diese mephistophelische Maske aus Glas über sein Gesicht.
«Es geschah an einem Frühlingstag im Jahr 1930, wie er schöner nicht hätte sein können. Berufliche Angelegenheiten erforderten für ein paar Wochen meine Anwesenheit in Berlin. Ich hatte ein Zimmer in einer günstigen Pension gemietet. Den ganzen Tag schlenderte ich durch die lebhaften Strassen. An Orten, wo es mir besonders gefiel, setzte ich mich auf eine Bank oder trank etwas in einem Biergarten. Es war der 6. Mai und ich beschloss, den Tag damit abzuschliessen, ein Lichtspieltheater zu besuchen. Im Gloria-Palast am Kurfürstendamm zeigten sie den Film Der blaue Engel mit Marlene Dietrich. Ich kannte das Buch von Heinrich Mann und war gespannt auf den Film. Er war nicht sonderlich gut, vor allem weil Roman und Film gewaltig von einander abweichen. Aber das tat meiner guten Laune keinen Abbruch und ich verliess den Gloria-Palast genauso beschwingt wie ich ihn betreten hatte.
Anstatt auf direktem Weg nach Hause zu gehen, lustwandelte ich erneut durch die Strassen. Die erste Panikattacke überkam mich, als ich einen Platz querte, der voller Leute war, die die laue Maiennacht genossen. Zwischen all den frohgelaunten Berlinerinnen und Berlinern zeigten sich viele braun-uniformierte Hitler-Anhänger ungeniert in der Öffentlichkeit. Sie benahmen sich jetzt schon weltmännisch arrogant und demonstrierten routinierte Überlegenheit. Während ich mir einen Weg durch die Menge bahnte, hatte ich auf einmal das Gefühl, neben mir zu gehen. Ein leichter Schwindel überkam mich, ich begann zu schwitzen und zu zittern und vermeinte, nicht mehr ich selber zu sein. Alles um mich herum begann unwirklich zu werden. Alles verstummte und ich hörte nur noch mein Herz schlagen. Bis anhin fühlte ich mich wohl unter vielen Menschen. Vor allem dann, wenn allgemein gute Laune herrschte. Aber an diesem 6. Mai war es anders. Ich musste weg von hier, diesen Platz und all die Menschen möglichst schnell verlassen. Ich lief so schnell ich konnte und schaute immer wieder nach oben, in der Hoffnung, die rettende Himmelsleiter würde zu mir he­runtergelassen. Ich begann Leute zur Seite zu schubsen, um schneller voranzukommen. Dabei rempelte ich auch ein paar Braununiformierte an. Das hätte ich besser nicht getan. Aber eine unbekannte Angst sass mir im Nacken und ich nahm keine Rücksicht auf andere Personen. Einer von ihnen packte mich und wollte mir eine reinhauen. Nannte mich paniertes Arschloch und jüdische Mückenseele. Gott sei Dank gelang es mir, mich loszureissen und in einer Seitengasse zu verschwinden. Ich stützte mich an einer Hausmauer, um mich zu beruhigen. Mein Hals war trocken, ich brauchte ein Glas Wasser. Benommen schritt ich durch die Gassen bis zur nächsten Gastwirtschaft, wo ich einkehrte und mir an der Theke etwas zu trinken bestellte. Der Barmann musterte mich und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich nickte stumm, liess den Kopf sinken und schloss die Augen. Ich hörte das Blut durch den Körper rauschen. Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer. Ich konnte hören, wie der Barmann mein Glas mit Wasser füllte. Ich konnte hören, wie die wenigen Gäste leise sprachen und plötzlich verstummten. Und ich konnte hören, wie eine Horde Nazis das Lokal betrat.»
Sinsheimer nahm einen Schluck vom gekühlten Bier. Draussen regnete es inzwischen in Strömen.
«‘Schau schau, die Judensau’, sagte einer hinter mir. Ich rieb mir die schmerzenden Augen und fragte mich, ob der Nazirüpel mich meinte und wenn ja, woher er wusste, dass ich Jude bin. Ich sah nicht aus wie ein Jude. Ich getraute mich nicht, mich umzudrehen und zu vergewissern, wer mit Judensau gemeint war. Schliesslich öffnete ich die Augen und sah den Barmann hinter der Theke vor mir stehen. Sein fieses Grinsen verriet mir, dass er vom selben Schlag war wie die Gäste. Ich war in meiner Panik in ein Lokal voller Nazis geraten. Das hatte mir gerade noch gefehlt: Zum Abschluss eines wirklich tollen Tages einer Horde unberechenbarer, fehlgeleiteter Pat­rioten ausgeliefert zu sein. Aber genau dieser Umstand war eingetreten. Der Barmann gab mir zu verstehen, dass ich mich umdrehen soll. Ich weigerte mich und verharrte mit gesenktem Blick vor dem Glas Wasser. ‘Friedliche Bürger anrempeln, sich nicht entschuldigen und abhauen’, sprach derselbe Kerl hinter mir. ‘Und sich hier in unserer Stammkneipe verstecken.’ Alle im Lokal lachten. ‘Wie kann man nur so blöd sein!?’ ‘Nur Juden können so blöd sein’, schallte es einhellig von den Tischen. Ich knallte Hartgeld auf die Theke und wollte verschwinden. Aber der Kerl hinter mir versperrte den Weg, packte mich mit beiden Händen am Kragen und drückte mich gegen die Theke. Der Barmann hielt von hinten meine Arme fest. Ein anderer durchwühlte meine Taschen.
‘Pinkas Sinsheimer’, las er laut von einem Schriftstück, das er mir aus der Innentasche des Jackets gezogen hatte.
‘Sinsheimer’, wiederholte der Kerl, der mich festhielt. ‘Jüdischer gehts nicht’, grölte er. ‘Hab ich nicht gesagt, der Kerl stinkt nach Jude. Hab ichs nicht gesagt!’
In diesem Augenblick wusste ich, dass dieser Tag ein übles Ende nehmen würde. Ich fühlte mich wie ein Insekt, das sich in einem Spinnennetz hoffnungslos verfangen hat. Ich fühlte mich wie damals im Kinderheim, als mich die älteren Jungs festhielten und niederdrückten und versuchten, mir Hundekot in den Mund zu stopfen. Damals begann ich zu begreifen, dass ich lernen musste, mich angemessen zu wehren, um meine Kinderehre zu retten und nicht die Hölle auf Erden zu erleben. Ich wollte ja nicht als Gedemütigter durch mein künftiges Leben schreiten. Ich entsann mich an damals, schloss die Augen so fest ich konnte, befreite den rechten Arm vom Klammergriff des Barmanns, griff nach dem Wasserglas, schlug es am Tresen kaputt und rammte es dem Nazirüpel ins Gesicht. Alle im Lokal verstummten ob meiner Dreistigkeit, bis auf den Kerl vor mir, der jetzt von mir abliess, sich ans Gesicht fasste und zu schreien und fluchen begann, dass die Gläser in den Regalen zitterten. Das Blut spritzte und floss in Strömen. Diesen Moment der allgemeinen Verwirrtheit wollte ich ausnützen. Ich riss mich los und rannte Richtung Ausgang. Aber die Tür war verschlossen. Es gab kein Entrinnen. Ich hatte alles nur noch verschlimmert.»
Frau Sinsheimer fuhr dem Gatten über die Wange. Ihre hechtgrauen Augen leuchteten silbern. Sie sah verstörend aus, wie nicht von dieser Welt. Sinsheimer lächelte verlegen, zwinkerte seiner Frau zu und nahm einen ordentlichen Schluck Bier.
«Was dann folgte, war schrecklich. Mit dem kaputten Glas hatte ich meinem Peiniger das linke Augenlied zerrissen und Wangen und Nasenrücken ordentlich verletzt. Der Kerl vermeinte das Augenlicht verloren zu haben. Aber dem war nicht so: Nur das viele Blut verwehrte ihm die Sicht. Zwei der Gäste verarzteten ihn notdürftig vor Ort. Die Übrigen kümmerten sich um mich. Zuerst wurde ich niedergeschlagen. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Rücken nach unten auf einem der grossen Tische, Hände und Füsse festgebunden an den Tischbeinen. Ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment gevierteilt. Gesicht und Rumpf schmerzten.
‘Ihr Judenschweine! Haltet euch ans Mosaische Gesetz, wo es heisst, dass man Gleiches mit Gleichem vergelten soll. Oder etwa nicht?! Tja, würden wir uns daran halten, kämst du beinahe ungeschoren davon. Und das wollen wir ja nicht, ungeschoren davonkommen. Wir haben unsere eigenen Gesetze.’ Alle grölten und lachten. An der Theke gabs Freibier. Der Kerl, den ich im Gesicht verletzt hatte, war wieder da. Mit einbandagiertem Kopf und voller Vergeltungsdrang. Als er sich mir näherte, schloss ich die Augen und mit dem Leben ab. Ich erwartete den Todesstoss. Aber der kam nicht.
Sie erniedrigten mich aufs Heftigste, nahmen mir das linke Auge und prügelten mich erneut bewusstlos. Als ich zu mir kam, wusste ich nicht, wo ich war. Ich war nackt. Sie hatten mich aus der Spelunke weggebracht und in einem Strassengraben am Rand der Stadt abgelegt. Mühsam und unter schrecklichen Schmerzen kroch ich auf die nahegelegene Strasse. Es herrschte so gut wie kein Verkehr, und das erste Auto, das sich mir näherte, hielt an. Man brachte mich in ein Krankenhaus, wo ich zwei Wochen lang blieb. Während ich darniederlag, schrieb ich Salzsteins einen Brief. Sie besuchten mich sofort und versprachen, dass sie mich nach der Entlassung zu sich holen und sich um mich kümmern würden.
Die brutale Erniedrigung und der Verlust des Auges zerstörten mein Leben. Ich war stark traumatisiert. Mehr als die körperliche Verstümmelung setzten mir die psychischen Beeinträchtigungen zu, die als Folgeerscheinungen miteinhergingen. Kein Wunder, ist doch hinlänglich bekannt, dass körperliche Makel seelischen Schaden anrichten. Und besonders der Verlust eines Auges und somit des Stereosehens. Für einen Kunsthistoriker sehr bedauerlich. Andauernd hatte ich das Gefühl, ein bösartiger Dämon mache mir das Leben schwer. Mein Hirnkasten war angefüllt mit bösen Gedanken. Einäugigkeit steht ja für das Attribut des Bösen. Sie brauchen nur an all die Piraten zu denken mit ihren Augenklappen, auch wenn sie da­runter meist ein gesundes Auge verbargen. Oder die einäugigen Riesen in der Antike. Die Literatur ist voller bösartiger Einäugiger, die mit dem Teufel im Bund stehen. – Dazu kamen Panikattacken, die fortan meinen Alltag bestimmten. Ich fühlte mich wie ein gehetztes Tier, das sein baldiges Ende vor Augen hat. Ich litt immer mehr und entwickelte mich allmählich zu einem aggressiven, unberechenbaren Zeitgenossen, der zu guter Letzt einen Selbstzerstörungsprozess in Gang gebracht hatte, der sich gewaschen hat. Da half auch die Assoziation zur göttlichen Einäugigkeit nichts. Jahrelang war ich nicht imstande zu arbeiten. Ich wurde zu einem Fall für die Psy­chiatrie. Es waren nicht nur, wie ich gestern gesagt habe, Forschungsarbeiten, die mich ins Ausland gebracht haben, sondern vielmehr meine Krankheit. Und ich muss gestehen, dass mir die vielen Aufenthalte in Psychiatrien im In- und später vor allem im Ausland nebst der unermüdlichen Fürsorge der Salzsteins sehr geholfen und wesentlich dazu beigetragen haben, mein erbärmliches Leben zu retten.»
Sinsheimer hielt inne und schnäuzte die Nase.
«All die Aufenthalte und Behandlungen waren bestimmt teuer», sagte Loki. «Wer hat das alles bezahlt.»
«Meine gesamten Ersparnisse waren schneller erschöpft, als mir lieb war. Ab 1935 übernahmen dann sämtliche Kosten die Salzsteins. Fragen Sie mich nicht, wie sie das angestellt haben. Ich weiss es nicht.»
Der Alte griff nach einem Häppchen und stopfte es sich in den Mund.
«An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass ich schon im Heim in Halle einen Gönner hatte. Dieser jemand schickte monatlich genug Geld an die Waisenanstalt der Franckeschen Stiftungen, um mir eine ordentliche Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen. Ich entschied mich für ein Studium. Meinen unbekannten Gönner habe ich zu keiner Zeit kennengelernt. Es musste sich um einen Juden handeln. Er bestand darauf, dass ich Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Halle wurde.»
Sinsheimer schnappte sich ein weiteres Häppchen und behielt es in der Hand.
«In einer Zeit dahinzuvegetieren, in der sich schon wieder die traurige Tatsache abzeichnete, dass der Rausch des Todes über unser wirtschaftlich geschwächtes Land kommen wird und in der sich die geistige Elite vor allem damit zu beschäftigen begann, den Sinn des Todes zu deuten, verschlechterte meinen Zustand zusätzlich. Ohne Zweifel war ich nicht nur eine Zumutung gegenüber Ärzten, Pflegern und Freunden, sondern vor allem gegenüber mir selber. Ich begann mich zu hassen. Ich begann alles zu hassen. Das Böse kam wie gesagt über mich – nämlich in Form von Wahnsinn.
Mit der Machtergreifung Hitlers fand die Zeit der Katastrophen ihren Höhepunkt, eine Zeit, in der einmal mehr dumme Leute dachten, sie wüssten viel, und kluge, sie wüssten wenig. Eine Welt, in der Intelligenz nichts gilt und die von Narren beherrscht wird. Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und Hungersnöte waren die Folgen. Dreissig Prozent Arbeitslosigkeit in Deutschland. Es herrschten dunkle Zeiten. Meine Heimat verfiel endgültig dem Führerwahn. Der Alltag wurde von Rassenhass bestimmt. Die Intellektuellen demonstrierten Machtlosigkeit. – Während aus Salzsteins Agenten wurden, moutierte ich zu einem Depressiven mit posttraumatischen Belastungsstörungen.»
«Dann stimmt die Aussage, dass Sie die Salzsteins für Jahre aus den Augen verloren haben, auch nicht», unterbrach Loki den Alten.
«Wir haben uns über Jahre nur selten gesehen. Kein Wunder. Sie hatten im Ausland zu tun. Und ich zog es vor, im Ausland zu leben respektive mich im Ausland behandeln zu lassen. Das erklärt auch den Aufenthalt in der Schweiz. Mir wurde sogar die Ehre zuteil, eine Zeit lang von Carl Gustav Jung behandelt zu werden. Die Sitzungen mit ihm waren eine tolle Erfahrung, schade nur, dass auch er mir nicht helfen konnte. Im Gegenteil, seine Behandlungen schürten meine Ängste noch mehr, indem er meine zerrüttete Wirklichkeit durch das analytische Nadelöhr zog und ständig betonte, dass es immer einen Ausweg gibt. Er wollte, dass ich nicht mehr an eine Wirklichkeit glaubte, die mich demütigt und entmündigt. Er wollte, dass ich eine andere wähle und damit aufhöre, nach der Wahrheit zu suchen. Die Jahre gingen polternd einher und ich hatte nicht mehr nur Angst vor mir selber und anderen Menschen, sondern auch Angst vor Träumen, Erinnerungen und vor dem Wahnsinn, ich hatte Angst vor dem Himmel, vor Geistern und vor allem vor meinem eigenen Geist, ich hatte Angst vor Gott und allen anderen Göttern und, was für mich das Schlimmste war, ich hatte Angst vor der Angst. Tag für Tag wurde mein Herzschlag schneller, die Atmung flacher, die Hände immer verschwitzt und kalt wie Eiszapfen, mir schwindelte, ich zitterte unkontrolliert und Übelkeit war mein ständiger Begleiter. Ich war ein Fisch auf dem Trockenen. Ich stürzte unweigerlich in die von mir geschaffenen Bilder, Bilder, die der Wirklichkeit keinen Platz liessen und mich aufsogen wie ein Schwamm, bis nur noch eine leere Hülle übrig blieb.
Ich vegetierte dahin in einer Welt, der ich nichts mehr und die mir nichts mehr bedeutete. Keinen Funken Lebensfreude mehr konnte ich ihr abgewinnen. Und ebenso wenig war ich ihr zu irgendwas nütze. Ich war überflüssig, fehl am Platz oder, wie man heute sagen würde, ich war im falschen Film. Ich kapitulierte und richtete die kümmerlichen Überreste meiner Wut gegen mich selber, weil es andersrum sowieso nichts gebracht hätte. Ich begann mich selber zu verletzen, zunächst nur leicht, dann immer ein bisschen mehr, bis ich in einem Augenblick völliger geistiger Umnachtung beschloss, mir das zweite Auge zu nehmen, damit mir wenigstens der Anblick einer Welt versagt bliebe, die langsam aber sicher komplett aus den Fugen geriet. Natürlich schaffte ich es nicht, mir das gesunde Auge zu nehmen, also beschloss ich kurzerhand, mir das Leben zu nehmen. Leider erfolglos. Ich war ein Versager, mehr denn je. Immerhin trug ich durch den misslungenen Selbstmordversuch ein paar ordentliche Verletzungen davon, die mich schliesslich zum ersten mal nach Davos brachten, wo ich mich erholen sollte. Ausgerechnet nach Davos, dachte ich, wo es von Auslanddeutschen nur so wimmelte. Im Nachhinein ist der Kuraufenthalt in Davos das Beste, was mir passieren konnte: In der Alpenmetropole lernte ich meine Frau kennen und lieben.»
Sinsheimer nahm die Hand seiner Frau, drückte sie leidenschaftlich und lächelte sie an wie jemand, der der wahren Liebe schon vor langer Zeit teilhaftig geworden war, einer Liebe, die auch Jahrzehnte später noch immer bedeutend mehr war als romantisches Glück und freundschaftliche Tiefe.
«Das war im Winter 36, wenige Wochen, bevor Frankfurter diesen Gustloff mit mehreren Schüssen niederstreckte. Wir begegneten uns in einem Café, in dem ich während meines Aufenthalts hin und wieder einkehrte. Sie sass allein an einem Tisch und las Zeitung. Plötzlich sah sie auf und blickte mich mit hechtgrauen Augen an. In diesem Moment geschah etwas in meinem Kopf. Ich konnte spüren, wie Hebel angesetzt und Schalter umgelegt wurden. Als würden sich die Synapsen neu organisieren und Verbindungen eingehen, die dem Gehirn bis anhin versagt blieben. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wusste ich, dass diese Frau meine bessere Hälfte ist. Ähnliche Gedanken schossen auch ihr durch den Kopf, wie sie mir später erzählte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Das Dämonische hatte uns getroffen. Ich blieb stehen und starrte sie an wie ein Idiot, bis sie mich hiess, mich zu ihr zu setzen. Ich gehorchte wie eine willenlose Kreatur. Das war es also: das stärkste Gefühl, das der Mensch kennt – die Liebe. Nie im Leben hätte ich damals geglaubt, gerade die Liebe zu finden, in einer Welt, die von einer Krise in die nächste taumelte. Und noch weniger hatte ich erwartet, ein Auserwählter zu sein, der jemand Seelenverwandtes trifft, eine Person, mit deren Geist man sich auf der Stelle vereinen, mit deren Körper man verschmelzen und mit der man auf immer unzertrennlich sein möchte. Diese Begegnung veränderte meinen Blick auf die Welt und unser künftiges Dasein, dieses unerwartete, zufällige Treffen bestimmte ab sofort unser Schicksal.
Ich fühlte mich, als wäre ich aus einer dunklen Höhle endlich ans Licht des Tages geführt worden. Ihre Präsenz brach mit der Macht eines einzigen Blicks in mich hinein, und umgekehrt. Wir wussten an jenem schicksalshaften Nachmittag, dass die geteilte Erfahrung gerade aufkeimender Liebe das entscheidende Erlebnis unserer Existenz sein wird. Wir sassen da und sagten nichts, weil wir uns blind verstanden. Wortlos öffneten wir füreinander die Seelen.»
Wo die Liebe hinfällt, wandelt sie Existenzen.
«Es passierte etwas Wunderbares: Unser Leben begann. Wir fanden die Liebe und somit unser Glück in einer Zeit und einem Umfeld, wo das Unmenschliche im Menschen präsenter war als je zuvor. Vor allem bei den Nazis. Sie demonstrierten Unmenschlichkeit mit beispielloser Inbrunst. Aber ich wiederhole mich, entschuldigen Sie. Meine Frau war in jenem Winter zur Kur in Davos. Wie viele andere wegen Lungenbeschwerden. Ihr Vater bestand als Arzt darauf, dass die Tochter ihr Leiden in Davos kurierte, und zwar in der Deutschen Klinik Davos-Wolfgang, genau dort, wo Wilhelm Gustloff anno 1917 sein Lungenleiden behandeln liess. Tja, meine Herren, und dieser Gustloff wurde in seiner Wohnung erschossen, kaum dass ich meine Frau kennengelernt hatte. Er war es übrigens, der schon 1930 den ersten Stützpunkt der NSDAP in Davos gegründet hatte. Es gefiel ihm dermassen gut in Davos, dass er blieb, eine Anstellung beim Physikalisch-Meteorologischen Institut antrat, zum Landesvertrauensmann für die Schweiz ernannt, schliesslich Landesgruppenleiter und nach seiner Ermordung zum ersten Blutzeugen des Nationalsozialismus im Ausland hochstilisiert wurde. Das Propagandaministerium läuterte den Kerl rhetorisch äusserst geschickt zum Märtyrer.
Meine Läuterung nahm ihren Beginn an jenem Nachmittag im Café, als ich meiner Frau begegnete. Ich frage mich heute noch, von welchen Sternen wir einander zugefallen sind. In jenem Augenblick unseres Zusammentreffens hoffte ich innigst, dass dieser Moment der Wahrheit keine jener Illusionen sei, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind. Ich weiss nicht mehr, wie lange wir schweigend einander gegenübersassen. Sie starrte mich reglos an, ohne zu lächeln, ohne zu blinzeln. Das war ziemlich gruselig. Damals wusste ich noch nicht, dass diese Starrheit Ausdruck eines angeborenen Leidens war. Auf jeden Fall fiel die Welt urplötzlich in sich zusammen und ich schmolz in meiner Bewegungslosigkeit dahin wie Käse.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lächelte sie auf einmal und fragte mich nach meinem Namen und ob ich etwas trinken wolle. Ich sagte nichts und nickte nur, bis sie die Fragen wiederholte. Sie nickte zurück und starrte mich mit ihren hechtgrauen Augen noch eindringlicher an. Ich konnte spüren, wie sie versuchte zu verstehen, was in meinem Kopf gerade geschah. Und sie verstand. Sie verstand, dass ich nichts zu tun haben wollte mit der Welt und krampfhaft versuchte, das gesamte Universum auf diesen Moment und diesen Ort zusammenzuschrumpfen. Mein Name sei Sinsheimer, Pinkas Sinsheimer, und ich würde gerne eine heisse Schokolade trinken, sagte ich schliesslich. Sie bestellte für mich und meinte nonchalant, dass ich nicht aussähe wie ein Jude. Diese wenigen Worte aus ihrem Mund genügten komischerweise, um zu hinterfragen, ob ich tatsächlich Jude war. Erstaunlicherweise ging mir dieser Gedanke in jenem Café zum ersten Mal durch den Kopf. Wie ich zu meinem Namen gekommen bin, habe ich nie herausgefunden. Damals im Heim in Halle erzählte man mir, dass ich um den Hals ein Schildchen getragen habe, auf dem dieser jüdische Name stand. Ob das der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen. Hätte man mir einen anderen Namen gegeben, wäre ich nicht zum Juden geworden. Ich hätte die Salzsteins niemals kennengelernt, ich hätte das rechte Auge nicht verloren, möglicherweise hätte mich sogar der Bazillus des Nationalsozialismus befallen. Was für eine schreckliche Vorstellung, meine Herren. Im Nachhinein bin ich froh, zum Juden erzogen worden zu sein, auch wenn mir übel mitgespielt wurde.»
Der Alte machte eine Verschnaufpause, während derer er sich langsam wie die Kontinentaldrift tiefer in die Couch sinken liess und seine Frau einmal mehr erstarrte. Loki und ich nahmen ein paar Schlucke Bier und schwiegen. Unabgesprochen kamen wir beide zum Schluss, diese eigentümliche Stille, die sich in Sinsheimers Wohnzimmer, ja im ganzen Haus ausgebreitet hatte, auf keinen Fall zu stören. Nicht mal mein Schatten getraute sich etwas zu sagen.
«Während ihrer Aussetzer treibt sich meine Frau in einer Art Parallelwelt rum, wie sie es nennt. An einem Ort, den zu beschreiben sie nicht die richtigen Worte findet. Es sei wie Träumen, nur ungleich intensiver. Und obwohl die Anfälle nur wenige Minuten dauern, habe sie jedesmal das Gefühl, stunden-, ja tagelang fortgewesen zu sein. Als würde sie an jenem Ort über einen unerschöpflichen Vorrat der sagenumwobenen verlorenen Zeit verfügen. Wenn Sie mich fragen, meine Herren, wechselt sie schlichtweg ins Unterbewusste, wo es weder Zeit noch Raum gibt. So wie es aussieht, verbringt sie, rein gefühlt, mehr Zeit in den Tiefen des Unterbewusstseins als hier in der Wirklichkeit. Sie lebte schon immer in zwei Welten. Von der einen ist sie enttäuscht, von der andern begeistert. Und sie hat schon lange beschlossen, sich von der Alltagswelt zu lösen, aber erst dann, wenn auch ich dazu bereit sei, diesen Schritt zu tun. – Und nun sind wir bereit. Wir haben die Schnauze gestrichen voll von dieser Welt. Es ist Zeit zu gehen.»