Zum Inhalt von «Tollkirschen»

Anker
Ich nehme euch mit auf eine traumwandlerische Reise ins Ungewisse, ins Absurde, zu den Oberirdischen, zu den Unterirdischen und zu den Verlorenen. Während bei den Oberirdischen hundert Jahre verstreichen, vergehen bei den Unterirdischen wenige Wochen, und bei den Verlorenen scheint die Zeit ihrer metaphysischen Natur beraubt zu sein. Ich führe euch vor Augen, zu welch abscheulichen Taten der Mensch fähig ist. Ich werde euch den Menschen vorführen, wie er wirklich ist: dumm, habgierig und deshalb kurzlebig. Ihr werdet Schicksale miterleben, dass ihr weinen müsst, dass ihr lachen müsst, und ihr werdet ab und an das Buch für kurze Zeit zur Seite legen, weil ihr gedankenverloren die Augen schliesst, um darüber nachzudenken, was ich euch sagen will.
Dazu reisen wir auf der Landkarte der Zeit zurück ins Jahr 1875 und folgen meinen Ahnen über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren durch mehr oder weniger schwierige Zeiten. Wir treffen skurrile Gestalten und begleiten meinen kauzigen, kleinwüchsigen Grossonkel Leopold, der das zweite Gesicht hat und hellsichtig ist vor allem in Dingen, die den Tod betreffen, auf seiner Odyssee mit den Unterirdischen, nachdem er auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Die Unterirdischen – eine Horde kiffender, lüsterner Zwerge, die seit jeher darum bemüht sind, die Menschheit mit den neuesten wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen zu versorgen. Wir nehmen Teil an deren Mission, die nicht weniger zum Inhalt hat, als ein verschwundenes Buch zu finden, um das universelle Gleichgewicht zwischen Realität, Fiktion und Traum wieder herzustellen. Ein sehr seltsames Buch, das nicht von Menschenhand geschrieben ist und alle Bücher der Welt in sich birgt. Wir begegnen tief im Innern der Erde der kosmischen Keimzelle, einem chthonischen Wesen, das älter als das Universum ist und sich von Zeit ernährt, einem Wesen, welches dem Halbgott Loki, dem grössten aller mythischen Schurken, dabei helfen wird, sich von seiner mythologischen Fessel zu lösen und in die Wirklichkeit zu fliehen. Wir reisen mit den Kirchberger Erdleuten unter kundiger Führung des hässlichsten, aber klügsten aller Zwerge durch Raum und Zeit, um an einem Ort, wo die Naturgesetze nicht mehr gelten, auf die Verlorenen zu treffen, die herauszufinden versuchen, warum sie aus ihren kommoden Leben gerissen wurden und an einem Ort gelandet sind, den es gar nicht geben dürfte. Wir verbringen ein paar turbulente Tage in ihrer Gesellschaft, bevor wir sie auf ihrem letzten Gang begleiten, den sie mit bewundernswerter Ataraxie beschreiten.
Die Verlorenen – ein asexueller Quacksalber, der die Angst gepachtet zu haben scheint, ein sauertöpfischer Dickbauch und Vatermörder mit eidetischem Gedächtnis und überragendem Intellekt, der sich die Maske des Klerikers überstülpt, um der Stumpfsinnigkeit der Welt zu entfliehen und hemmungslos dem Müssiggang zu frönen, nachdem er mehr als zehn Jahre die Welt bereist hat, nur um herauszufinden, dass es den wahren Glauben nicht gibt, zwei bildschöne Aristokratinnen, die ihrer Liebe wegen über Leichen gehen, ein Koch, der jahrelang auf einem Flussschiff gefangen gehalten und missbraucht wird, bevor er seine wahre Bestimmung in Paris findet, ein Sohn einer Hure, der als Jüngling auf dem Friedhof der Unschuldigen einem geheimnisvollen Graubart in dessen Familiengruft folgt und in die carrières von Paris gelangt, wo er Zeuge schlimmster Opferrituale wird, den Fängen seiner Peiniger aber entkommen kann und Jahre später als Polizist Satanisten und andere Verbrecher jagt, ein gewiefter Kaufmann und Önologe, der bei Cyrano de Bergerac das Fechten und Tanzen lernt, bevor er sich mit zwanzig Jahren Verspätung auf die Grand Tour begibt, auf der er allerlei Aufregendes erlebt – sie alle stammen aus dem Frankreich des 17. Jahrhunderts. Wir werden mit ihnen in Erinnerungen schwelgen, bis sie feststellen müssen, dass sie bis vor Kurzen nicht wesenhaft waren, dass sie nur gedachte Persönlichkeiten sind, abgefüllt mit falschen Erinnerungen, Figuren, die sich auf höchst mirakulöse Weise an einem Ort zwischen den Welten manifestiert haben.
Wir lassen uns von wüsten Waldweibern veräppeln und von den schönsten aller Geschöpfe, den lichten Ehefrauen der Zwerge, betören. Ich werde euch auf unterhaltsame Art zeigen, dass die Wirklichkeit, wie ihr sie kennt, nicht alles ist. Zusammen werden wir die Welt, die gepflastert ist mit Dummheit, abschütteln, um endlich das zu erkennen, was sich hinter unserem Dasein versteckt.
Und ich werde euch von mir erzählen. Ihr werdet erfahren, wie ich als Säugling den Tod überliste, um zu dem zu werden, was ich bin. Dazu hole ich etwas weiter aus und berichte vorgängig von den Schicksalen meiner Familie. Wir lernen die Schrecken des Ersten und des Zweiten Weltkriegs kennen, nehmen am Alltag der Familie meiner Mutter teil, wie sie sich während der Zeiten deutscher und russischer Besatzung in Kirchberg an der Raab in der Steiermark behauptet, einem Alltag ohne Ehemänner, ohne Väter. Die sind entweder auf dem Feld gefallen, an der Spanischen Grippe gestorben, in Gefangenschaft geraten oder verschollen. Wir flüchten mit meinem Grossvater mütterlicherseits aus dem Kessel von Stalingrad, nur um dann nach geglückter Heimreise südöstlich von Berlin im Kessel von Halbe kurz vor Ende des Krieges niedergeschossen zu werden. Ein Schicksalsschlag jagt den anderen, bis es meiner blutjungen Mutter reicht und sie ihre Heimat verlässt, um ihr Glück in der Schweiz zu finden. Wir werden dabei sein, wie sie auf dem Anwesen von Herrn Poxleitner – ein schwuler, dandyhafter, sehr wohlhabender Wiener, der seine Heimat schon früh verlassen hat, um nicht der Willkür der Nazis zum Opfer zu fallen – meinen Vater Quinten kennen- und lieben lernt. Herr Poxleitner, ein wahrer Gentleman, der meiner Familie über Generationen hinweg sehr zugetan ist und der in seiner Zerstreutheit bisweilen den Bezug zur Realität verliert.
Wir begleiten meinen Vater Quinten durch eine schwierige Kindheit, erleben mit, wie er ein begnadeter Musiker wird, ohne jemals Noten lesen zu können, wie er dank seiner Arbeit fremde Länder und Kulturen kennenlernt und mir und meinen Geschwistern ein Vater ist, den wir kaum kennen. Ich erzähle euch von meiner Angst vor dem Leben und meinem Groll, den ich von Beginn weg gegenüber den Menschen empfinde. Ich berichte euch, wie ich das Meer besiege und den Vatikan verfluche. Ihr werdet Fürchtegott Wendehals kennenlernen, einen seltsamen Herrn mit makellosem Gebiss, der täglich seine beiden Vögel spazieren führt und der von sich behauptet, ein Gestaltwandler zu sein.
Ihr werdet Zeuge des ehelichen Zerfalls meiner Eltern und werdet dabei sein, wenn mein verschollener Grossonkel nach über dreissig Jahren wieder auftaucht, nicht gealtert und unfähig, mit der neuen Welt zurechtzukommen. Wir werden zusammen herausfinden müssen, ob der kleine Kerl, der bei Herrn Poxleitner wohnt und behauptet, Leopold zu sein, die Wahrheit sagt.
Ihr werdet euch jetzt fragen, was das alles miteinander zu tun hat. Um das he­rauszufinden, braucht ihr nur meine Niederschrift zu lesen – und ihr werdet sehen, dass alle Geschichten zusammenhängen, dass es keine Zufälle gibt, höchstens die Illusion des Zufalls, dass es keine Träume gibt, sondern nur übereinander geschichtete Wirklichkeiten. Ihr werdet verstehen und lernen, euer Leben, eure Wirklichkeit nicht mit Kummer und Leid zu definieren, wie es die Menschheit zu tun beliebt. Lest – und ihr werdet die Angst vor dem Sterben ein klein wenig verlieren.